Es war einmal in der Tapas-Bar: Luis-Lopéz Carrascos Film setzt mit Splitscreens auf künstliche Patina.

Filmfestival Rotterdam

Gewinner des Tigers von Rotterdams: Der chinesische Wettbewerbsbeitrag "The Cloud in Her Room".

Foto: IFFR

Kurz vor der Oscar-Verleihung am nächsten Wochenende, bei der "Parasite" gleich auf sechs Auszeichnungen hoffen darf, steckte der koreanische Regisseur Bong Joon-ho seinen Kopf noch zur Tür des Filmfestivals Rotterdam hinein, um eine Masterclass zu halten. Kein Routinetermin, aber auch keine nostalgische Rückschau: Er könne sich noch an die Riesenleinwand erinnern, als er hier vor 19 Jahren sein Debüt, "Barking Dogs Never Bite", präsentiert hatte, so Bong, eine "dumme schwarze Komödie", was freilich so nicht ganz stimmt.

Bong kam auch auf die Schwarz-Weiß-Version seines prämierten Klassenkampfdramas zu sprechen, die er nach Rotterdam mitgebracht hatte. Es gebe keinen Grund dafür, "aber wenn ich an Vorbilder wie Renoir oder Hitchcock denke, dann sind so viele ihrer Filme, die ich liebe, in Schwarz-weiß." Also das Geschenk eines Meisters an sich selbst, aus Lust am formalen Spiel.

Karriereboost Rotterdam

Noch immer beginnen in Rotterdam gerne Karrieren. Der nach dem Gründer benannte Hubert Bals Fund, ein Fördertopf für junges Kino aus Asien, Lateinamerika, Afrika und Ostereuropa, leistet wichtige Unterstützung bei der Realisierung von randständigen Filmprojekten. Auch der experimentelle Kurzfilmbereich ist hier prominent vertreten. 2020 etwa mit den heimischen Vertretern Siegfried A. Fruhauf, Veronika Schmid und Philipp Fleischmann, drei bemerkenswerten Medienstudien – von Schmids den Weg der Sonne begleitender Landschaftsreflexion im Breitwandformat über Fruhaufs schwindelerregender Lichtwellenbeschleunigung in "Thorax" bis zur so zarten wie dynamischen Kreisbewegung, mit der Fleischmann durch den Pavillon von Venedig führt.

Einen experimentierfreudigen Zugang wählt auch eine der Entdeckungen dieses Jahrgangs, "El año del descubrimiento" von Luis Lopéz Carrasco, dabei geht es um ein hochpolitisches Thema. Der Spanier führt in Splitscreens in eine Tapas-Bar der Hafenstadt Cartagena. Dort vollzieht sich ein Reenactment: Man glaubt sich im Jahre 1992, das Land feiert sich mit Expo und Olympischen Spielen gerade selbst, aber die Gäste haben andere Sorgen. Die Gespräche drehen sich um Gewerkschaften, die ihre Glaubwürdigkeit verloren haben, um den Schock und die Scham der Arbeitslosigkeit, oder, noch umfassender, um den Wandel des Arbeiterbilds.

Verraten und verkauft

Carrasco hat all die Dialoge mit realen Personen und einer Hi8-Kamera so inszeniert, dass sie wie Archivfundstücke von damals wirken. Statt der Euphorie über ein näher an Europa heranrückendes Land, überwiegt das Gefühl, verraten worden zu sein. Den Hintergrund dafür verdeutlicht der zweite Teil der fast dreieinhalbstunden langen, faszinierenden Zeitreise: Da sprechen die realen Werftarbeiter und Gewerkschaftler über die Proteste gegen Entlassungen und Fabrikschließungen – eine Maßnahme, mit der die von den Sozialisten geführte Regierung das Land auf den EU-Beitritt vorbereiten wollten.

"El año del descubrimiento" führt auf geradezu exemplarische Weise vor, wie eine sich links wähnende Politik die Interessen ihrer eigenen Wählerschaft einem höheren Ziel geopfert hat. Dass die verheerenden Folgen noch heute spürbar sind, macht Carrascos Film auch durch seine Form klar.

International Film Festival Rotterdam

In den rhapsodischen Bewegungen ihrer Figuren spiegeln zwei Debütfilme aus China und Griechenland die Umbrüche ihrer Länder wider. Die griechische Videokünstlerin Janis Rafa reiht sich mit ihrem Filmdebüt "Kala azar" in die Reihe der surrealen Autoren ihres Landes ein, eigen ist dem Film jedoch seine animalisch sinnliche Qualität. Im Mittelpunkt steht ein Paar, das seinen Beruf als Tierretter fast kultisch auslebt. Auf den Straßen lesen sie Kadaver auf, um sie zu begraben, gleichzeitig scheinen sie selbst zu verwildern.

"The Cloud in Her Room" von Zhen Lu Xinyuan, der mit dem Tiger als bester Film ausgezeichnet wurde, begleitet die junge Muzi (Jin Jing) in einem an frühe Nouvelle-Vague-Filme erinnernden, flanierenden Gestus durch ein Beijing, das sich so gewandelt hat, dass sie keine Bodenhaftung mehr gewinnt. Einmal schwimmt sie wie Treibholz im Pool, die Kamera taucht unter ihr hinweg. Ein schönes Bild für das Schweben dieses Films – und wie der Rest in Schwarz-weiß. (Dominik Kamalzadeh aus Rotterdam)