Kommen die Briten (oder die Schotten) irgendwann zurück in die EU?

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Es waren rührende Szenen, die sich im EU-Parlament rund um die Abstimmung über den Brexitvertrag abspielten. Nicht nur Abgeordnete vom Kontinent, auch viele britische Mandatare bekannten sehr persönlich, wie tief der EU-Austritt sie, ihre Familien und Landsleute treffe.

Richard Corbett etwa von Labour, der vor 47 Jahren beim EWG-Beitritt der Briten als Assistent seiner damals euroskeptischen Partei dabei war, sagte, er hoffe inständig, seine Enkelkinder würden den Wiederbeitritt zur EU erleben – so einmalig seien europäische Aussöhnung und Integration.

Katarina Barley, deutsche Exministerin mit britischem Namen, erzählte, wie ihr Vater als Kind Flugzeuge der Royal Air Force bestaunte, ihre Mutter aus Dresden flüchtete, als britische Bomber die Stadt zerstörten. Und doch hätten sie einander gefunden.

In scharfem Kontrast zu so viel Liebe zur Gemeinschaft stand der letzte Auftritt des Brexitantreibers Nigel Farage. Er ließ alle Hemmungen fallen: "Wir lieben Europa, aber wir hassen die Europäische Union."

Die Tagesordnung brachte mit sich, dass sich diese Szenen ausgerechnet nach einer Gedenkstunde zum 75. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz abspielten.

Gibt es einen Plan?

Härter hätten die schrecklichen wie die versöhnlichen Seiten der Geschichte Europas kaum aufeinanderprallen können. Es waren die Briten, die sich Hitler mutig entgegengestellt hatten. Ohne Briten und Churchills Züricher Rede 1946, in der er "eine Art Vereinigte Staaten von Europa" anregte, wäre der Weg zur heutigen EU kaum denkbar gewesen.

Kein Wunder also, dass nicht wenigen die Tränen in die Augen schossen, als die Abgeordneten im Parlament am Schluss mit den Briten ein trauriges schottisches Abschiedslied anstimmten, einander an den Händen hielten. Aber wohin will Europa nach dem Brexit? Gibt es einen Plan? Mit Wehmut, Zurückschauen oder Illusionen, mit Hurra-Optimismus ist den Europäern nicht geholfen.

Die Realität ist banaler. Ab Samstag sind die Briten raus aus der EU, ein Drittland mit Übergangsregeln nur bis Jahresende. Wenn es ernst wird, zeigt sich leider auch: Beide Seiten gehen allen Versicherungen zum Trotz einer höchst unsicheren Zukunft entgegen. Der Brexit markiert eine tiefe Zäsur bisheriger EU-Politik. Nötig wäre eine umfassende Neuaufstellung. Auf die sind beide Seiten nicht vorbereitet.

Ruf nach grundlegender Reform

Zum ersten Mal in der Geschichte schrumpft die EU, die immer nur auf Wachstum – auf Erweiterung – gesetzt hatte. Und in Zeiten von Globalisierung und Digitalisierung, also mehr Konkurrenz in der Welt, wird ihr globaler Einfluss ohne Briten deutlich geringer. Es wäre also nur logisch, wenn die Staaten der EU-27 seit längerem alles daran gesetzt hätten, auf diese Schrumpfung zu reagieren. Aber das taten sie nicht. Alle Appelle nach einer grundlegenden Reform der EU-Strukturen sind ohne jede Wirkung verhallt, Emmanuel Macrons Sorbonne-Rede genauso wie Jean-Claude Junckers "Optionenmodell" 2017.

Auch Österreich trägt nichts bei. Anders als seine Vorgänger Franz Vranitzky und Wolfgang Schüssel, beides überzeugte und überzeugende Anhänger europäischer Integration, redet Kanzler Sebastian Kurz viel vom "Großen" in der EU, legt aber kein Konzept vor. So geht es quer durch Europa. Im Mai soll eine "Konferenz zur Zukunft Europas" starten – ergebnisoffen, heißt es. Fast vier Jahre nach dem Brexitreferendum lässt sich das fast fahrlässig an. (Thomas Mayer, 1.2.2020)