Ex-Zögling Josef Haslinger ist heute Atheist – aber nicht wegen des Missbrauchs.

Foto: Heribert Corn

Vier Jahre lang erlebte Schriftsteller Josef Haslinger ab Mitte der 1960er als Zögling im niederösterreichischen Stift Zwettl sexuellen Missbrauch durch mehrere Zisterzienser. Im November 2018 wandte er sich nach langem Zögern an die zuständige Unabhängige Opferschutzanwaltschaft, die sogenannte Klasnic-Kommission. Aus dieser Erfahrung entstand sein vergangene Woche erschienenes Buch Mein Fall. Seit der Veröffentlichung komme er vor lauter Terminen und Briefen kaum mehr zum Arbeiten, sagt Haslinger. Damit habe er zwar gerechnet, die Reaktionen seien aber noch stärker als erwartet.

STANDARD: Welche Reaktion auf das Buch hat Sie bisher am meisten erstaunt?

Haslinger: Die erste Reaktion kam vom Abt aus Stift Heiligenkreuz, der mich um Verzeihung gebeten hat. Ich habe ihm geantwortet, dass er mir ja nichts getan hat und jemand anderes sich hätte entschuldigen müssen. Er hat mir dann geschrieben, dass er mir gleich geglaubt hat – was ich merkwürdig fand, weil die Frage der Glaubwürdigkeit damit ins Spiel kam. Aus Stift Zwettl habe ich persönlich noch keine Reaktion bekommen, obwohl meine Aussagen dem Kloster schon ein Dreivierteljahr vorliegen. Den Medien erklärte der Abt, dass ihn das Vergehen "mit tiefer Scham und Bestürzung" erfülle. Dank neuer Präventionsmaßnahmen könne so etwas nicht mehr passieren. Man sei bereit, die Kosten für eine Therapie zu übernehmen. Ich bekomme aber laufend Reaktionen von anderen.

STANDARD: Welche?

Haslinger: Ein Zögling, der zehn Jahre nach mir in Stift Zwettl war, hat mit mitgeteilt, dass es auch in dieser Zeit bei den Sängerknaben sexuellen Missbrauch gegeben habe. Ein ehemaliger Mitschüler schreibt mir, dass ihm dasselbe passiert sei. Ein anderer berichtet, Pater Gottfried habe vor seiner Versetzung nach Stift Zwettl in Heiligenkreuz schon sexuellen Missbrauch begangen. Hätte man die Sache damals nicht vertuscht, wäre mir viel erspart geblieben. Die Bilanz wird von Tag zu Tag grauslicher.

STANDARD: Haben Sie während des Schreibens daran gedacht, dass es Betroffenen Mut machen könnte, wenn jemand, der in der Öffentlichkeit steht, darüber spricht?

Haslinger: Allen, die mir schreiben, gebe ich denselben Rat: Behaltet es nicht länger für euch, sprecht darüber. Ich kann das nicht für euch tun, das müsst ihr selber machen. Und wenn der Fall nicht verjährt ist, geht zusätzlich zur Staatsanwaltschaft. Es sind ja nicht nur die Kirchenoberen, die versuchen, das alles unter der Decke zu halten, sondern auch einfache Christen, die nicht haben wollen, dass die Kirche mit solchen Sachen beschmutzt wird. Als hätte sie sich damit nicht selbst beschmutzt, sondern würde beschmutzt, indem man darüber redet! Ich habe eine Mail von einer Frau bekommen, die schreibt, sie habe Pater Gottfried als gütigen Christen kennengelernt, er habe viel Verständnis für Leid und Schmerz gehabt. Ihr schien, es würden ihn frühere Erlebnisse bedrücken, das hätte ihn verständnisvoll gemacht für die Fehltritte anderer. Es sei nur schade, dass ich ihn nicht in späteren Jahren erlebt hätte, ich wäre von seiner Güte und Menschlichkeit so beeindruckt gewesen, dass ich ihm "ein ehrendes Andenken geschenkt" hätte.

STANDARD: "Ich war zehn Jahre alt, als Pater Gottfried Eder sich für meinen kleinen Penis zu interessieren begann und dabei ganz offensichtlich in Erregung geriet", schreiben Sie. Welche Ahnung hatten Sie da von Sex?

Haslinger: Ich komme von der Landwirtschaft und hatte eine Vorstellung von Sex als Zeugungsakt, aber hier ging es ja um etwas anderes. Ich kam zur Vorstellung, ich müsse wohl ein Homosexueller sein. Das wurde aber als schwere Sünde hingestellt. Es dauerte, bis ich aus der Verwirrung fand.

STANDARD: Und dann?

Haslinger: Langsam hat sich so etwas wie Widerstand in mir herausgebildet. Zu Pater Maurus, da war ich schon in der vierten Klasse, habe ich gesagt, das geht mir zu weit und es abgewehrt. Ich habe ja eine Nacht mit ihm verbracht. Er wollte sich offenbar so richtig der Knabenliebe hingeben. Es gab auch noch den, der dachte, er kann beim Orgelspielen damit anfangen, auch dagegen habe ich mich gewehrt. Pater Maurus hatte sich auf schon pubertierende Kinder spezialisiert. Er hat mir nach dem Fußballspielen Zigaretten angeboten, mit mir über Frauen gesprochen, mir Pornohefte gezeigt. Es war eine ganz andere Form der Annäherung als bei Pater Gottfried. Aber letztlich war ich auch ihm ausgeliefert.

STANDARD: Was bedeutet das Ausgeliefertsein an doppelt so alte Männer?

Haslinger: Körperliche Gewalt habe ich nur von denen erfahren, die mich erzogen haben. Die sexuell Übergriffigen schlugen nicht. Ausgeliefertsein meint eine psychische Umgarnung, man ist in einem Netz, weiß keinen Ausweg und denkt sich, wird schon nicht so schlimm sein.

STANDARD: 2010 nannten Sie die Pädophilen in einem Artikel in der "Sphäre von körperlicher Gewalt eine Oase der Zärtlichkeit". Wie erlebten Sie das Internat generell?

Haslinger: Im Internat spielt auch viel eine Rolle, was im Buch kaum angesprochen wird, etwa welchen sozialen Hintergrund Schüler haben. Als kleiner, naiver Bauernbub hatte ich nicht den besten Stand.

STANDARD: Kamen Sie nie auf die Idee, mit Mitschülern über Erlebnisse zu reden?

Haslinger: Dazu hätte ich einen wirklich vertrauten Freund haben müssen. Als Pater Gottfried versetzt wurde, hat der Chorleiter das Thema angesprochen und wir haben uns in der Schulpause darüber unterhalten. Ich erfuhr, dass ich in unserer Klasse nicht der einzige war, der belästigt worden war. Es war dieses eine Gespräch, an das ich mich erinnere.

STANDARD: Sie wollten das Bild eines selbstbestimmten Lebens aufrecht erhalten und hätten daher lang geschwiegen, schreiben Sie. Haben die Erlebnisse Sie traumatisiert?

Haslinger: Ich habe nicht das Gefühl, dass ich an einem Trauma laborieren muss oder eine Therapie brauche. Ich hatte von zwölf bis 13 Jahren aber enorme Konzentrationsschwierigkeiten und entsprechende Schulergebnisse. Ob das mit dem Missbrauch zusammenhing, kann ich nicht sagen.

STANDARD: Aus der Ihnen zugesprochenen Entschädigung schließen Sie, dass Ihr Fall von der Kommission als "nicht so gravierend" beurteilt wurde. Wie fühlt sich das an?

Haslinger: Es ist mir nie darum gegangen, Geld rauszuholen. Ich wollte, dass mein Fall zu Kenntnis genommen wird. Nun ist aber die Skala der zugesprochenen Entschädigungen mein einziges Hilfsmittel, um einschätzen zu können, wie mein Fall von der Klasnic-Kommission beurteilt wird, nämlich in einer vierteiligen Skala zwischen der untersten und zweiten Stufe. Ich weiß nicht, was auf der dritten oder gar vierten Stufe passieren musste, bin aber überzeugt, dass es gravierendere Fälle gibt als mich. Ich hoffe, dass ich all das bald hinter mir lassen kann. Was ich tun musste und schließlich auch tun wollte, habe ich getan.

STANDARD: Können Sie verzeihen? In Ihrem Buch steht, Empathie mit den Tätern gehöre ein wenig zum humanistischen Standard.

Haslinger: Man kann mir gewiss nicht vorwerfen, dass ich Pater Gottfried nicht geschont hätte. Er hat mir die Kindheit versaut, aber ich wollte ihm nicht seinen Lebensabend versauen. Deshalb habe ich mit der Aussage bis nach seinen Tod gewartet. Inzwischen weiß ich, dass ich zu Lebzeiten von ihm keine Entschuldigung bekommen hätte, damit hätte sich auch die Frage des Verzeihens erübrigt. Mittlerweile ist es mir wichtig, alle zu unterstützen, die Interesse haben, dass die Kirche sich diesen Vorkommnissen umfassend stellt.

STANDARD: Welche Maßnahmen braucht es zur besseren Aufklärung und zum Schutz?

Haslinger: Es hat sich herausgestellt, dass es keine gute Idee war, die Aufarbeitung der kirchlichen Missbrauchsfälle im Verantwortungsbereich der Kirche zu lassen, so wie es in Österreich und Deutschland gehandhabt wird. Es ist zwar gut, dass es die Klasnic-Kommission gibt, damit die Opfer eine Stelle haben, bei der sie sich melden können. Aber die Klasnic-Kommission ist nicht für die Täter zuständig und kann nur die Fälle erfassen, die sich selbst melden. Von sich aus bringt die Kirche nichts ans Licht und geht auch auf keine Opfer zu. Dabei gibt es in der Kirche eine umfangreiche Mitwisserschaft, ich habe auf einem Foto zumindest drei Leute aus dem Konvent in Stift Zwettl wiedererkannt, von denen ich weiß, dass ihnen die sexuellen Übergriffe ihrer damaligen Mitbrüder bekannt sind. Niemand befragt sie. In Australien, den USA, ja selbst in Irland ist es der Staat, der die Kirche nach Missbrauchsfällen durchleuchtet. Vergleichbares wird in Österreich und Deutschland durch den für die Kirche bequemen Polster der Konkordatsverträge abgewehrt. Das Schulwesen ist eine gesamtgesellschaftliche Angelegenheit, daher ist es auch Aufgabe des Staates, für die Rechtmäßigkeit aller Erziehungsbereiche, auch der religiösen, zu sorgen und niemanden aus der Verantwortung zu entlassen. (Michael Wurmitzer, 3.2.2020)