Fantasieszene von glücklichen Momenten zwischen Leonore und Florestan.

Pöhn

Bei 007 kommen derartige Situationen routinemäßig vor: Zusammen mit einer Dame seiner sprunghaften Wahl geht es ins Zimmer zwecks Spontankuscheln. Während es sich die Dame bequem macht, verschwindet Bond kurz ins Badezimmer, um nicht mehr zurückzukehren. Im Auftrag seiner Majestät ist er abermals im Weltrettungsstress.

Ähnliches begibt sich an der Wiener Staatsoper während der Ouvertüre: Leonore lässt ihren Florestan (glänzend Benjamin Bruns) selig an sich ran, nur kurz will er ins Bad. Als Leonore besorgt nachsieht, findet sie jedoch nur sein blutiges Hemd. Ihr Herzensmensch verschwand allerdings nicht, um Bösewichte zu jagen; er wurde von einem solchen entführt. Und noch ein Unterschied zu Bond-Girls: Im Moment der Verzweiflung erlebt Leonore eine Persönlichkeitsspaltung.

Gefängnis Bahnhofshalle

Das Alter Ego ist bei Regisseurin Amelie Niermeyer eine Art Motivatorin, wenn es darum geht, Mut zur Befreiung des Gatten einzuimpfen. Wobei Florestan in keinem klassischen Gefängnis leidet. Alexander Müller-Elmau modellierte einen Einheitsraum, der als zum Verwahrungszentrum umfunktionierte Bahnhofshalle fungiert. Wir stehen vor einer gelenkten Demokratie, die Gefangene "sammelt": Marzelline verteilt an sie Essenspackerln; Vater Rocco (profund Falk Struckmann) hortet derweil gierig die Wertgegenstände der Einzukerkernden.

Die Selbstgespräche

Das surreale Gepräge der Regie, welche die Verdopplung der Leonore bewirkt, die sich anhand neuer Texte (Moritz Rinke) mit sich selbst unterhält, tritt nach und nach deutlicher zum Vorschein: Marzelline (glanzvoll Chen Reiss) schreitet plötzlich nächtens im Brautkleid daher und modelliert in der Bahnhofshalle ein Candle-Light-Dinner, das Leonore (in Männerkleidern) über sich ergehen lässt. Jaquino (ausgewogen Jörg Schneider) interessiert Marzelline ja nicht mehr.

Das sind inspirierte Ansätze. Mit dem Sicherheitspersonal und dem Chor allerdings hat die Regie nicht mehr als Bewegungsroutine im Sinn. Da bietet der Pas de deux mit dem Alter Ego (Katrin Röver) szenisch weitaus mehr an psychologischer Feinzeichnung einer in sich zerrissenen, aber schließlich doch zielstrebigen Frau.

Tragisches Happy End

Dass sie ihr Happy End mit Florestan nur noch – durch Pizarro (kultiviert Thomas Johannes Mayer) tödlich verwundet – als Vision einer Sterbenden erleidet, zieht das Geschehen ins Tragische und lässt Leonore wie eine Märtyrerin erscheinen, die sich für Freiheitsideale opfert.

Im finalen Wahn imaginiert sie einen Lamettavorhang, aus dem der gute Staatsopernchor in Glitzergewändern hervortritt. Inmitten dieser revueartigen Szene turtelt das Alter Ego mit Florestan, während der Hilfe bringende Minister (Samuel Hasselhorn) sich Bösewicht Pizarro widmet. Dieser Don Fernando scheint jedoch ein empathieloser Message-Control-Jünger zu sein. Seine Hilfsbereitschaft wirkt hohl und auf die Produktion vorteilhafter Medienbilder ausgerichtet. Ein Vertreter der Slim-Fit-Politgeneration, der in der imaginierten Utopie Leonores gleich zum nächsten Termin eilt.

Kompakte Urfassung

Ein großer Wurf wurde dieser Fidelio zwar nicht. Wohl aber kredenzt er ein ambitioniertes Konzept, um der 1805 uraufgeführten Urfassung der Oper Kontur zu verschaffen. Nur die Umsetzung gelang nicht durchgehend – im Gegensatz zum Orchestralen.

Dirigent Tomas Netopil modelliert den Schönklang des Orchesters mit Tiefgang und Innenspannung. Das hat Konsistenz, Poesie und Raffinesse. Angesichts des brisanten Sujets wäre natürlich etwas mehr an kantiger Zuspitzung und Akzentuierung abseits des Edelklanges nicht falsch gewesen. Selbiges überließ man Leonore. Jennifer Davis meisterte die Partie mit Einsatz aller Kräfte. Sie reichten aus, um Spitzentöne packend aufzuladen. In Summe jedoch wirkte ihr Stil etwas herb, zumal intonatorische Unsicherheiten den Eindruck verstärkten.

Dem Publikum war es höflichen und kurzen Applaus wert. Der Zorn ergoss sich nur über die Regie, die ausgebuht wurde. (Ljubiša Tošić, 2.2.2020)