Im Film "J'accuse – Intrige" zeigt Regisseur Roman Polanski: Der Jude Alfred Dreyfus (Louis Garrel, rechts) diente in Frankreich einst als perfekter Sündenbock für ein Land, das im Nationaltaumel der Paranoia anheimgefallen war.

Foto: Guy Ferrandis

Es beginnt mit einer öffentlichen Erniedrigung, der symbolischen Hinrichtung in dieser Geschichte. Der französische Hauptmann Alfred Dreyfus (Louis Garrel) wird an einem kalten Jännertag auf dem Hof der Pariser École militaire wegen Hochverrats degradiert. Ein inszeniertes Schauspiel der Macht, bei dem sich das gemeine Volk die Gesichter an den Zäunen plattdrückt.

Doch auch unter den hohen Militärs ist die Stimmung hämisch heiter. Roman Polanski streicht in J'accuse – Intrige schon in den ersten Szenen richtiggehend heraus, wie unverhohlen sich der Antisemitismus dieser Zeit artikulierte. Auch der Oberstleutnant Marie-Georges Picquart (Jean Dujardin), die zentrale Figur des Films, macht mit. Den Irrtum gesteht er später ein, seine Vorurteile nicht.

Der perfekte Sündenbock

Dreyfus, der Jude, diente als perfekter Sündenbock für ein Land, das im Nationaltaumel der Paranoia anheimgefallen war. Für Polanski, der selbst als Kind dem Krakauer Ghetto entkommen war und vor den Nazis fliehen musste, hat der Fall freilich auch einen persönlichen Hintergrund. An dem Justizskandal der Dritten Republik lässt sich ein institutionelles Versagen veranschaulichen, das bereits durch das Gift des Antisemitismus genährt wurde. Er kenne die Verfolgungsmechanismen, die hier am Werk seien, sagte Polanski in einem Interview: "Das hat mich offensichtlich inspiriert."

Doch schon bei der Premiere beim Filmfestival Venedig wurde der Film viel stärker im Lichte von Polanskis eigenen Schuldverstrickungen gelesen: Benutzt der Regisseur die historische Figur nur, um sie auf den Umgang mit seiner Person zu beziehen? Betrachtet er sich als Opfer eines moralischen Kreuzzugs, weil er vor allem in den USA sozial geächtet wird?

Die MeToo-Bewegung

Der Schatten des sexuellen Missbrauchs einer Minderjährigen im Jahr 1977 hatte den Regisseur sein halbes Leben lang verfolgt, durch die MeToo-Bewegung erhielt der Fall neue Dringlichkeit. Kurz vor dem Filmstart in Frankreich kamen noch weitere Vergewaltigungsvorwürfe durch die Fotografin Valentine Monnier hinzu, die sich an "extreme Gewalt" in seinem Chalet in Gstaad im Jahr 1975 erinnerte. Als J'accuse dann gleich für zwölf Césars nominiert wurde, blieben die empörten Reaktionen nicht aus.

Verteidigt wurde die Entscheidung vom Präsidenten der Akademie, Alain Terzian, damit, dass die Césars kein Gremium seien, das moralische Positionen einnehmen sollte. Ein etwas abgenutztes Argument, das sich in Wahrheit einer klaren Position enthält: Ein Film ist ein Film ist ein Film. Lohnender ist es, J'accuse gerade in seiner Widersprüchlichkeit ernst zu nehmen. Es ist ein Film voller verborgener Fliehkräfte, von denen manche eng mit Polanski, andere aber mehr mit rezenten sozialen Dynamiken in Verbindung stehen. Gerade diese nicht auflösbare Verquickung macht J'accuse so interessant.

Dabei hat es durchaus Ironie, dass Polanski das Lied eines Patrioten anstimmt, der für die justiziable Gerechtigkeit kämpft. Als Film, der von der Beschädigung rechtsstaatlicher Institutionen durch Verschwörer erzählt, liefert J'accuse viel Anschauungsmaterial, wie man die Demokratie beschädigt. Das dem Roman von Robert Harris folgende Drehbuch konzentriert sich auf Picquart, dem einstigen Ausbildner von Dreyfus, der zum Chef der Spionageabwehr aufrückt. Er ist kein Vorzeigeheld, er hat Affären, seine ideologischen Borniertheiten. Doch er glaubt an die übergeordnete Idee einer Armee und Justiz, die man keinem politischen Zweck unterstellen darf.

Den Morast riechen

Polanski war immer gut darin, in investigativen Geschichten Netzwerke zu zeichnen, in denen sich Missgunst und Niedertracht eingenistet haben. Hier meint man, den Morast fast riechen zu können. In den düsteren Zimmern seiner eigenen Behörde, die Bespitzelungsapparate des 20. Jahrhunderts vorwegnimmt, hat Picquart zunächst Schwierigkeiten, dem Informationsfluss zu folgen. Doch bald erkennt er, dass man fast geübter darin ist, Komplotte zu entwerfen, als solche zu enttarnen.

Picquart wandelt sich zum entschiedenen Aufdecker im eigenen Haus. Er kommt dem wahren Maulwurf auf die Schliche, will den Irrtum aufklären und Dreyfus rehabilitieren, stößt damit aber nur auf eine weitere Mauer des Widerstands. Gleichsam der Vorläufer eines modernen Whistleblowers, lässt er sich auch durch die Arroganz seiner Vorgesetzten nicht beirren. Polanski inszeniert mit dezent ineinandergreifenden Rückblenden. Selbst als Émile Zola eingreift, kommt kein Pathos des Widerstands auf. Es herrscht nur das dumpfe Gefühl, dass das Recht mit Füßen getreten wird.

J'accuse ist ein Film der perfiden Bürokratie. Es gibt heimlich geöffnete Briefe, Papierfetzen, die wieder zusammengeklebt werden, Handschriften, an deren Schwung man einen Täter zu erkennen meint. Es geht um uneindeutige Bilder, aus denen manche nur zu gerne eindeutige Schlüsse ziehen. Man sollte diesen Film sehen, sehen können, nicht boykottieren, ganz egal, wie man zur Person Polanski steht. (Dominik Kamalzadeh, 4.2.2020)