Bild nicht mehr verfügbar.

In der Nacht auf Mittwoch gilt allerhöchste Sicherheitsstufe im US-Kapitol, wenn Präsident Donald Trump seine alljährliche Rede zur Lage der Nation hält.

Foto: Reuters/Gripas

Es ist ein Ritual, das zur "State of the Union Address" gehört wie der Applaus in Form oft grotesk übertrieben wirkender Standing Ovations. Bevor der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, so wie am Dienstag seine Rede zur Lage der Nation hält, wird ein Mitglied seines Kabinetts dazu bestimmt, im Falle einer Katastrophe seinen Platz einzunehmen. Die Regelung geht zurück auf die kälteste Phase des Kalten Krieges, als man in Washington mit einem atomaren Angriff der Sowjetunion rechnete und entsprechende Vorkehrungen traf.

Wohin die Personenschützer des Secret Service den Ersatzmann beziehungsweise die Ersatzfrau bringen, das bleibt Staatsgeheimnis. Man weiß nur, dass es sich um eine Örtlichkeit handelt, die nicht in der Hauptstadt liegen darf – aber auch nicht zu weit von ihr entfernt. Man weiß, dass ein Militär ihm oder ihr den "Football" hinterherträgt – den Koffer mit den Codes für die amerikanischen Atomwaffen.

Und wie es sich anfühlt, zum "Designated Survivor" ernannt zu werden, hat einer, der es wissen muss, vor zwei Jahren in einem Fernsehinterview angedeutet: "Im ersten Moment dachte ich, ich hätte was falsch gemacht", verriet Bill Richardson, einst von Bill Clinton dazu erkoren, diese Rolle zu übernehmen. Zunächst, erinnerte sich der ehemalige UN-Botschafter und Energieminister, sei er enttäuscht gewesen: Denn zu gern hätte er sich aus nächster Nähe angehört, was der Präsident zur Lage der Nation zu sagen hatte.

Überleben garantiert

Designated Survivor: Gemeint ist das Regierungsmitglied, dessen Überleben garantiert sein muss für den Fall, dass bei einem Bombenangriff oder einem Terroranschlag, um nur zwei Szenarien zu nennen, die komplette politische Elite des Landes ums Leben kommt. Die nämlich ist an dem Abend, an dem die feierlichste Rede des Jahres Demokraten und Republikaner – theoretisch – über Parteigräben hinweg zusammenführen soll, vollzählig versammelt in der Abgeordnetenkammer.

Womit im Falle eines Desasters Makulatur wäre, was sowohl die Verfassung als auch der Presidential Succession Act von 1947 regeln: Demnach rückt der Vizepräsident ins Oval Office auf, sollte der Präsident sein Amt aus irgendeinem Grund nicht mehr ausüben können. In der Hierarchie folgen: der Chef des Repräsentantenhauses (aktuell Nancy Pelosi), der ranghöchste Senator, dann die Minister in einer gesetzlich festgelegten Sequenz.

Wie es aussähe, sollte der Designated Survivor tatsächlich zum Einsatz kommen, hat eine Netflix-Serie gleichen Namens in telegener Dramatik ausgemalt: Tom Kirkman, ein Wohnungsbauminister auf dem absteigenden Ast, findet sich plötzlich im Zentrum der Macht wieder. Während das Kapitol nach einer Bombenexplosion in Trümmern liegt, muss er, mit dem passenden Decknamen Phoenix versehen, die Fäden der Staatsgeschäfte in die Hand nehmen. So wie Kiefer Sutherland die Rolle anlegt, ist es die Geschichte eines scheinbar chronisch Überforderten, der an seinen Aufgaben wächst. Der Amateur, der über Nacht zum Profi wird: ein amerikanisches Ideal.

Im wahren Leben sind ein paar Feinheiten zu beachten. So muss der zum Überleben Bestimmte nicht nur mindestens 35 Jahre alt, sondern auch auf amerikanischem Boden geboren worden sein. Wen der Senat nicht bestätigt hat auf seinem Posten, der scheidet von vornherein aus. Kommissarisch amtierende, vorübergehend ernannte Minister kommen damit nicht infrage.

Vor zwölf Monaten war es Rick Perry, der mittlerweile als Energieminister zurückgetreten ist, der die Stellung zu halten hatte – ein Ex-Gouverneur aus Texas, der 2012 Präsident werden wollte und keineswegs chancenlos schien, bis er sich bei einer Kandidatendebatte einen blamablen Aussetzer leistete: Er konnte sich nicht an eines jener drei Ministerien erinnern, das er neben dem für Handel und dem für Bildung abzuschaffen versprach, um die Bürokratie abzubauen. Es wäre ausgerechnet das Energieministerium gewesen.

Absolute Geheimhaltung

Vor Perry war Sonny Perdue an der Reihe – ein Politikveteran aus Georgia, zuständig für das Ressort Landwirtschaft. Bis heute haben beide mit keiner Silbe verraten, wie sie seinerzeit den Abend verbrachten, erlöst in dem Moment, in dem der Präsident aus dem Kongress ins Weiße Haus zurückkehrte.

Nur Bill Richardson hat es einmal detaillierter beschrieben: Er logierte in Oxford, einer Kleinstadt in Maryland, malerisch an der Chesapeake-Bucht gelegen, 129 Kilometer östlich vom Kapitol. Im Jänner 2000 war das. Heile Welt, bevor die Anschläge vom 11. September 2001 die Nation schockierten – und für den Designated Survivor eine noch strengere Geheimhaltung zur Folge hatten. Nach 9/11 hat keiner mehr aus dem Nähkästchen geplaudert. (Frank Herrmann aus Washington, 4.2.2020)