Wer darauf gehofft hat, dass die Spannungen zwischen London und den 27 EU-Partnern nach dem Brexit abnehmen, hat sich getäuscht. Das Gegenteil ist der Fall. Jetzt geht der Streit erst so richtig los – auch innerhalb der Gemeinschaft.

Die Drohgebärden rund um die Verhandlungen über den EU-Finanzrahmen, bei denen Bundeskanzler Sebastian Kurz ganz vorne als Bremser mitmischt, sind ein Vorspiel dazu. Gleichzeitig beginnt das Ringen um EU-interne Reformen, um Entscheidungsmechanismen. Dabei geht es um die Macht, um Machtverteilung und Kompetenzen der Staaten. Brexit-Nachfolgeregime, Budget, Reformen: Die Elemente sind eng verknüpft, wirken wechselseitig. Das alles zusammengenommen verspricht bis Jahresende ein turbulentes EU-Jahr.

Im Juli übernimmt Deutschland den EU-Vorsitz. Für Kanzlerin Angela Merkel, die sich auf ihr letztes Amtsjahr vorbereitet, wird das zur ultimativen Herausforderung. Frankreich drängt nach dem Abgang der Briten um (noch) mehr Einfluss, die deutsch-französische Achse wird fast automatisch wichtiger. Merkel will auch ihr Erbe bestellen, sich einen guten Platz in der Geschichte sichern. Das größte und mächtigste EU-Mitglied muss für Kompromisse nach allen Seiten sorgen – keine leichte Aufgabe, wenn man an die Spaltung zwischen West- und Osteuropa denkt. Aber machbar.

Im Juli übernimmt Deutschland den EU-Vorsitz. Für Kanzlerin Angela Merkel wird das zur ultimativen Herausforderung.
Foto: imago images/Christian Spicker

Das streitbare Vereinigte Königreich bleibt dabei jedenfalls auf absehbare Zeit direkt und indirekt an Bord der EU. Es ist als Mitglied am Wochenende vorerst nur formell ausgetreten. Die bestehenden EU-Regeln für beide Seiten ändern sich während der Übergangszeit bis Ende 2020 nicht. So ist das auch im ganz normalen Leben der Menschen dies- und jenseits des Ärmelkanals: Sie spüren keinen Unterschied zwischen vorher und nachher.

Diese Unbekümmertheit, die man im Moment auf beiden Seiten im Alltag wahrnimmt, hat etwas sehr Trügerisches. Sie ist rückwärtsgewandt, orientiert sich (noch) an dem, was jahrzehntelang üblich war. Geregelt ist mit dem Brexit-Vertrag nur die Vergangenheit: das, was war.

Geplanter Neuanfang

Aber ab sofort geht es zwischen den Briten und der EU um das viel Wichtigere: die Zukunft, Regelungen der Beziehungen in einer Welt, die sich durch Digitalisierung und Globalisierung so dynamisch ändert wie nie in der Geschichte. In den Reden, die der britische Premier Boris Johnson und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen zum geplanten Neuanfang als "enge Partner und Freunde" gehalten haben, ließ sich gut ablesen, warum es krachen wird.

Die beiden haben eine völlig andere Vorstellung davon, wie die Zukunft der Gesellschaft, des Arbeitslebens, der Wirtschaft und des Handels aussieht bzw. aussehen soll. Johnson sprach begeistert von Wettbewerb und freiem Handel – mit den USA, China, Indien, Australien, Neuseeland. Das "europäische Modell" ist kein Vorbild. Bei von der Leyen klingt alles umgekehrt: Sie glaubt, dass die Briten weitgehend auf EU-Linie bleiben sollten.

Irgendwo "dazwischen" wird man eine Lösung finden müssen, damit die Briten und die EU echte Freunde bleiben. Aber man soll sich keine Illusionen machen: Die EU-internen Streitereien um das EU-Kanada-Abkommen haben vor drei Jahren gezeigt, wie sehr diese "Mitte" auch in den 27 EU-Staaten umstritten ist. Österreichs Zankerei um den Ceta-Vertrag ist uns noch schlecht in Erinnerung. (Thomas Mayer, 3.2.2020)