Das Wort "Brexit" kam in Boris Johnsons Rede im Londoner Naval College kein einziges Mal vor. Nun geht es um die Beziehungen in der Zukunft. Und da zeichnet sich Zoff ab.

Foto: No10 Downing Street/parsons

Vor dem Auftakt der nächsten Brexit-Verhandlungsrunde betreiben London und Brüssel psychologische Kriegsführung. In einer als programmatisch angekündigten Rede versprach der britische Premier Boris Johnson am Montag "kein Dumping": Großbritannien werde weiterhin hohe Standards bei Arbeits- und Umweltschutz einhalten, sich aber nicht vertraglich darauf verpflichten. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen warnte London vor überhöhten Erwartungen: "Es gibt keinen Freifahrtschein in den Binnenmarkt, sondern immer nur Rechte und Pflichten."

Von der Leyen bekräftigte damit am Montag ihre von liebenswürdigen Wortgirlanden umkränzte knallharte Botschaft, die sie den Briten bereits in Jänner bei ihrem Besuch in London übermittelt hatte: "Unsere Partnerschaft wird nicht so eng sein wie zuvor." Bei der Verteidigung der Einheit von Binnenmarkt und Zollunion werde es keine Kompromisse geben.

Für seine Rede, in der das Wort "Brexit" kein einziges Mal vorkam, hatte Johnson britische Geschäftsleute und Botschafter europäischer Staaten in das Naval College von Greenwich in Südost-London eingeladen; dessen zentrale Halle, in barocker Pracht ausgemalt von James Thornhill, gilt als "britische Sixtinische Kapelle". Ausdrücklich positionierte der Premier sein Land als "unabhängigen Vorkämpfer und Impulsgeber für globalen Freihandel"; hingegen würden die Befürworter des Protektionismus "in Brüssel, in China, in Washington" an Boden gewinnen.

Vorbild Ceta

Johnson erklärte erneut seine Präferenz für einen "ehrgeizigen Freihandelsvertrag" mit der EU, dem größten Binnenmarkt der Welt. Eine Anpassung an dessen Regularien werde es aber auf keinen Fall geben. "Wir wollen einen umfassenden Freihandelsvertrag, vergleichbar mit Ceta", sagte Johnson mit Blick auf die frühere britische Kolonie Kanada.

Übers Wochenende war in Londoner Regierungsstuben auch das Verhältnis der EU zu einer anderen Exkolonie, Australien, als Vergleich ins Spiel gebracht worden. Allerdings hat Brüssel mit dem fünften Kontinent bisher keinen umfassenden Handelsvertrag, lediglich Vereinbarungen in einzelnen Sparten wie der Luftfahrt. Offenbar halten die PR-Berater des Premiers aber den Vergleich mit Australien für attraktiver als das Gerede vom Handel nach den Regeln der Welthandelsorganisation WTO. Dies käme einem Chaos-Brexit ("No Deal") am Jahresende gleich, wenn Großbritanniens Übergangsfrist gesetzlich endet.

Der Brüsseler Chefunterhändler Michel Barnier stellte einen umfangreichen Handelsvertrag für Güter und Dienstleistungen in Aussicht. Dieses "großzügige Angebot" beruhe jedoch auf zwei Voraussetzungen: Großbritannien müsse sich zu "offenem und fairen Wettkampf" bekennen und langfristige Garantien zusichern. Außerdem pochen EU-Staaten wie Frankreich und Spanien wie bisher auf umfangreichen Zugang zu den fischreichen Gewässern rund um die Britischen Inseln.

Strategische Planung

London spricht ausdrücklich von bevorzugter Behandlung der eigenen Fischfangflotte und möchte mit Brüssel jährlich über Fangquoten verhandeln. Auf beiden Seiten hat das Thema eine weit über seine wirtschaftliche Bedeutung hinausgehende emotionale Komponente. Fischfang und -export trug im vergangenen Jahr 0,04 Prozent zum britischen Wertschöpfungsindex GVA bei. Hingegen lag der Anteil der Finanzindustrie bei 7,2 Prozent.

Catherine McGuinness von der City of London, dem wichtigsten internationalen Finanzplatz der Welt, hat für Dienstag Korrespondenten aus aller Welt zusammengetrommelt. Ihre Botschaft dürfte sich kaum von früheren Briefings unterscheiden: Die Finanzlobbyisten wünschen sich weiterhin den bestmöglichen Zugang zum Binnenmarkt.

Dass die negativen Folgen eines harten oder gar chaotischen Brexits auch vor EU-Ländern nicht Halt machen würde, verdeutlichte am Montag ein Bericht der "Financial Times". Im Fall gegenseitiger Einfuhrzölle für seine Produkte plane der japanische Autohersteller Nissan nicht etwa eine Werkschließung in Großbritannien, sondern in Spanien und Frankreich. Weil Autos von Ford oder Volkswagen künftig auf der Insel deutlich teurer würden, so die angebliche Kalkulation, könne Nissan mit seinen im nordenglischen Sunderland produzierten Kleinwagen seinen Marktanteil von vier auf bis zu 20 Prozent steigern. (Sebastian Borger aus London, 3.2.2020)