Mit dem Titel "Requiem für einen Traum" kommentiert in einem ungewöhnlich leidenschaftlichen Artikel der in Großbritannien aufgewachsene "New York Times"-Kolumnist Roger Cohen den britischen Abschied von der Europäischen Union und bedauert die "Tragödie einer verwirrten Nation". Auch die Rede des weltberühmten britischen Autors John le Carré bei der Entgegennahme des Olaf Palme-Preises in Stockholm spiegelt die Verbitterung und sogar die Wut all derer wider, die den Brexit für wirtschaftlich absurd halten und den Populismus Premier Boris Johnsons, des "brillanten Opportunisten" (so der "Economist" am Freitag) verachten: "Eines Tages wird mir sicher jemand erklären können, warum zu einem Zeitpunkt, an dem die Wissenschaften so weit sind wie nie zuvor, die Wahrheit so offensichtlich ist wie nie zuvor und das Allgemeinwissen so leicht verfügbar ist wie nie zuvor, Populisten und Lügner derart Konjunktur haben." Nur aus Privatgesprächen und zwischen den Zeilen spürt man, welche Verbitterung im tief gespaltenen Lande selbst neben der ignoranten Fröhlichkeit der Brexiteers auch herrscht.

Der britische Premier Boris Johnson.
Foto: EPA/Jason Alden

Das ganze Ausmaß des Brexit-Abenteuers wird erst ab dem 1. Jänner 2021 langsam sichtbar und damit auch der Preis, der vor allem für Großbritannien, trotz der von Johnson versprochenen "Morgendämmerung und nationalen Erneuerung", sehr hoch werden könnte. Die EU nimmt rund die Hälfte der britischen Exporte ein. Etwa 80 Prozent der britischen Autoproduktion wird exportiert, die Hälfte davon in die EU, die auch 60 Prozent des Ausstoßes der chemischen Industrie aufnimmt. Die Folgen des Ausscheidens für London als Finanzplatz, aber auch für die Niederlassungen der amerikanischen und japanischen Autoindustrie auf der Insel liegen auf der Hand. Sobald der Brexit vollzogen ist, wird der Handel mit der EU für britische Unternehmen viel komplizierter.

Für die von vielfältigen Spannungen geschwächten EU geht es, über die gefährdeten Märkte hinaus, auch über geopolitische und strategische Folgen des Abschieds von einer Nuklearmacht mit ständigem Sitz im Uno-Sicherheitsrat. Zufriedene Teilnahmslosigkeit, gar rechthaberische Schuldzuweisung seitens einer EU mit 27 Teilnehmern wäre fehl am Platz. Ein ehemaliger Spitzenberater der britischen Regierung twitterte am Abend des Abschieds in London: "Wir werden beide (Großbritannien und die EU) gewaltig verlieren". Wenn auch manche, vielleicht viele Brüsseler Bürokraten, die Briten, denen bekanntlich so viele Konzessionen eingeräumt waren (bei der Währungsunion und beim Schengen Abkommen), bestrafen möchten, liegt es im eminenten Interesse Europas sich nicht von London abzuwenden. Es geht nicht nur um die Sicherheit der östlichen Flanke (Polen und Baltikum) angesichts der latenten Gefährdung durch die expansive Strategie Russlands, sondern auch um einen Bauplan für die neuen Beziehungen zur zweitstärksten Militär- und Wirtschaftsmacht Europas.

Ungeachtet des (hoffentlich temporären) Sieges des englischen Nationalismus und aller Schwierigkeiten, ist die Europäische Union eindeutig das beste Experiment, das es je in der europäischen Geschichte gegeben hat. (Paul Lendvai, 4.2.2020)