Protest in Erfurt.

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FDP-Mann Thomas Kemmerich, der erst am Mittwoch zum Ministerpräsidenten Thüringens gewählt worden war, strebt nun die Auflösung des Landtags an. Hinter seinem Rückzieher steckt bundesweite Empörung über die AfD.

Frage: Was ist eigentlich passiert?

Antwort: Der 54-jährige FDP-Politiker Thomas Kemmerich wurde am Mittwoch im thüringischen Landtag überraschend zum Ministerpräsidenten gewählt. Der Liberale erhielt die nötigen Stimmen von der rechtskonservativen AfD. Der Traum des weitgehend unbekannten Abgeordneten vom höchsten Amt im Bundesland hielt allerdings nur 24 Stunden. Dann sprach FDP-Chef Christian Lindner ein Machtwort. Zu groß war der Schaden, den Lindner für seine FDP durch die Wahl Kemmerichs mit Unterstützung der AfD befürchtete. Am Donnerstagnachmittag kündigte Kemmerich dann seinen Rücktritt an, Thüringen steht vor Neuwahlen. Die AfD habe "mit einem perfiden Trick versucht, die Demokratie zu beschädigen", so Kemmerich. Diese hatte einen Kandidaten aufgestellt, der dann aber – auch aus der eigenen Fraktion – keine einzige Stimme erhielt. Christian Lindner seinerseits will heute, Freitag, in der Parteiführung der FDP die Vertrauensfrage stellen.

Frage: Weshalb die Empörung?

Antwort: "Tabubruch" war eines jener Worte, die seit Mittwoch in- und außerhalb Erfurts besonders häufig zu hören waren. Zum ersten Mal seit Bestehen der Bundesrepublik wurde ein Politiker mithilfe einer Partei rechts von der Union in ein Regierungsamt gehoben. Einer Partei notabene, die in Teilen als völkisch-rechtsextremistisch gilt und deren rechter "Flügel" vom Verfassungsschutz beobachtet wird. Das ist für Deutschland, wo stets an die Ereignisse in der Weimarer Republik und den Aufstieg der NSDAP durch Koalitionen erinnert wird, eine Zäsur. Bislang beteuerten sämtliche im Bundestag vertretenen Parteien, niemals mit der AfD zusammenzuarbeiten oder zu koalieren. In Thüringen wurde quasi mit diesem Versprechen gebrochen. CDU und FDP waren sich bewusst, dass Kemmerich mithilfe der AfD gewählt werden könnte – möglicherweise gab es gar eine Absprache. Das wäre als Kooperation der bürgerlich-liberalen Mitte mit den Rechtskonservativen zu interpretieren.

Frage: Warum ist das für die AfD ein Erfolg?

Antwort: Die AfD versucht stets, sich als bürgerliche Kraft zu verkaufen, um bis weit in die Mitte wählbar zu sein. Mit dem Coup von Thüringen hat sie sich quasi den offiziellen Beweis für ihre Bürgerlichkeit abgeholt – sie ist so weit in der deutschen Politik angekommen, dass jetzt auch FDP und CDU mit ihr zusammenarbeiten. "An uns führt kein Weg mehr vorbei", jubelten die Parteigrößen der AfD. Unrecht haben sie damit zumindest im Osten Deutschlands nicht. Dort kommt die Partei auf Werte von weit über 20 Prozent.

Frage: Was bedeuten die Ereignisse für die große Koalition in Berlin?

Antwort: Angela Merkels Regierung geriet kurzzeitig ins Wanken, die Kanzlerin sprach von einem Tag, "der mit den Werten und Überzeugungen der CDU gebrochen" habe. Die mitregierende SPD verlangte eine Aussprache im Koalitionsausschuss am Samstag. Die Genossen fordern eine klare Abgrenzung der CDU von der AfD. Würde es in Thüringen nun nicht zu Neuwahlen kommen, würde der Druck der SPD-Mitglieder auf die Parteispitze wachsen, die große Koalition zu verlassen. Ein Festhalten an der Zusammenarbeit mit der CDU, die mit der AfD gemeinsame Sache macht, hätten die Genossen ihrer ohnehin schwindenden Parteibasis wohl kaum verkaufen können.

Frage: Was bedeutet die Polit-Affäre von Thüringen für FDP und CDU?

Antwort: Das Vorgehen der Landesverbände der Liberalen und Christdemokraten zeigt die Schwäche der Parteichefs Christian Lindner (FDP) und Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU). Die Landesverbände scherten sich zunächst nicht um die Vorgaben aus Berlin, sich von der AfD fernzuhalten. Insbesondere für "AKK" ist die Lage ungemütlich. Lindner forderte sie dazu auf, sich im CDU-Präsidium ebenfalls der Vertrauensfrage zu stellen. Dabei wurde die heutige Verteidigungsministerin einst bereits als Nachfolgerin Merkels im Kanzleramt gesehen. Inzwischen erodiert ihre Macht immer mehr.

Frage: Wie geht es weiter?

Antwort: Um die Auflösung des Thüringer Landtages zu beschließen, bedarf es einer Zweidrittelmehrheit. Dafür braucht es Stimmen von Linken, SPD, Grünen, FDP und CDU – oder der AfD. Kommt diese Mehrheit nicht zustande, will Kemmerich dem Landtag die Vertrauensfrage stellen. Die Thüringer werden in den nächsten Wochen abermals zur Urne gerufen. Dass der Fall von Thüringen als Einzelfall in die Geschichte eingehen wird, ist zumindest zu bezweifeln. In Ostdeutschland ist die AfD zweitstärkste Kraft. Auch in den Landtagen anderer Bundesländer könnte die Partei also künftig von sich reden machen. (Christoph Reichmuth aus Berlin, 6.2.2020)