Das Autorinnen-Ich (im Gorilla versteckt: Caroline Peters) und eine Thunberg-Jelinek-Hipster-Klimaaktivistin (Caroline Baas) in "Schwarzwasser" am Akademietheater.

APA/Burgtheater/Matthias Horn

Kein Autor, keine Autorin des deutschen Sprachraums entwickelt das Schreiben so akkurat und konkret aus Vorfällen der unmittelbaren Gegenwart wie Elfriede Jelinek. Spätestens seit ihrem Stück über die propagandistische Rezeption der Roma-Morde in Oberwart, Stecken Stab und Stangl (uraufgeführt 1996), gilt die Nobelpreisträgerin als die schnellste literarische Eingreiferin, der den politischen Ereignissen in heftiger sprachlicher Umkreisung verlässlich hinterherruft.

Elfriede Jelinek hängt am Tropf der zu verwurstenden Realität: Sie schrieb über die Toten von Kaprun (In den Alpen, 2002), die Finanzkrise inklusive Hypo Alpe Adria (Die Kontrakte des Kaufmanns, 2009), die Atomkatastrophe von Fukushima (Kein Licht., 2011), die versagende Flüchtlingspolitik (Die Schutzbefohlenen, 2014) oder den weltweiten Siegeszug populistisch-infantiler Politik am Beispiel Donald Trumps (Am Königsweg, 2017).

Literarische Halbwertszeit

Mit Schwarzwasser, ihrem bereits im Spätherbst des vergangenen Jahres fertiggestellten und am Donnerstag im Akademietheater uraufgeführten Stück über die sogenannte Ibiza-Affäre, legt sie nun nach. Dabei beginnt die Realität – das sieht man diesem Abend an – in der literarischen Halbwertszeit immer schneller zu galoppieren. Ibiza? Jenes Video, das vor neun Monaten nichts weniger als die österreichische Regierung zu Fall brachte, hat durch die virale Wirksamkeit und Rezeption heute schon wieder einen Schimmer von Patina. Alles vielfach durchgekaut.

Am Donnerstag feierte im Wiener Akademietheater das neue Stück von Elfriede Jelinek "Schwarzwasser" seine Uraufführung.
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Sich dessen bewusst, schreibt Jelinek dagegen auch an. Sie schließt die politische Allmachtsfantasie, die jenseits von Sachlichkeit, Gesetzen oder Moral einen eigenen, attraktiven Entfaltungsraum bewohnt, mit dem antiken Drama Die Bakchen des Euripides kurz. Darin entert Dionysos in Menschengestalt die Stadt Theben, um seinen Göttlichkeitsanspruch massakermäßig einzulösen.

Das Sprecherinnen-Ich

Den "jungen Gott" in Jelineks Text auf Sebastian Kurz zu beziehen ist augenscheinlich beziehungsweise auf der Bühne (so wie einst auch bei Trump) über das Haupthaar belegt. Das Glossar im Programmheft klärt über weitere Zeichen auf: Odin Wiesinger, die Tierschutzbeauftragte Philippa Strache, die Schredderaffäre, Andreas Gabalier oder Elfriede Jelinek selbst. Die Autorin ist, wie in allen ihren Stücken der letzten Jahre, als ihr eigenes selbstkritisches Sprecherinnen-Ich im Text anwesend.

Einmal steigt sie (Caroline Peters) aus einem pinken, pompös dicken Gorilla-Kostüm und legt die Gewalttheorie des französischen Religionsphilosophen René Girard an die Kurz-Dionysos-Göttlichkeit an. Dann heißt es in Schwarzwasser: "Er treibt uns der Gewalt in die Arme, damit er dann selbst als Vernunft und Friede auftreten kann." Oder: "Die Gewalt ist so verführerisch (...). Sie geht immer vom anderen aus."

Grimm-Märchen

Gewalt ist die Klammer des Abends, die Handlungsebene, von der Jelinek sich vom läppischen Ibiza-Video wegzieht, um auf eine Verhandlungsbasis zu kommen, auf der sie die tückischen Mechanismen von Manipulation und der Trivialisierung von Politik und Macht ausstellend herbeischreibt. Regisseur Robert Borgmann ist dabei kein schlechter Helfer, aber rasend verkopft, sodass einige Winkelzüge des Textes auch auf der Strecke bleiben und im Umkehrschluss dann vor allem der plakative Ibiza-Stoff (eingekaufte Politik, ausverkaufte Heimat, bacchantischer Sog et cetera) immer wieder in den Vordergrund rückt.

Borgmann hat mannigfaltig gekürzt und an den Beginn das Schreckmärchen Die wunderliche Gasterei der Brüder Grimm als Menetekel gestellt, ein gruseliges Leber- und Blutwursttreffen, das Märchenonkel Martin Wuttke gelassen erzählt. Und aus dem man die Lehre ziehen kann, dass es die eine Wurst mit er anderen niemals gut meint. Wuttke wird sich später noch als Keynote-Speaker, sprich als grandios wehleidiger Joker-Hitler an der Seite der durchtriebenen Comicfigur Poison Ivy (Peters) beim Publikum einschleimen ("die Kamera, die wir leider nicht gesehen haben ..."; "das Recht muss der Politik folgen"). Und er wird als Maler Velazquez am Gemälde Las Meninas, zu Deutsch "Die Hoffräulein", malen – mit Peters als grandios stimmverzerrter, fünfjähriger Infantin Margarita im Mittelpunkt, die sich bedauernd über die grausame Politik der Straße äußert.

Brünhild oder Thunberg?

Man weiß in dieser Inszenierung nie sofort, in welcher Situation man sich befindet – weil die Bilder nie das sind, was sie scheinen. Wer ist die Gewalt? Und wer ist ein Opfer? Beispielsweise hievt sich eine Phalanx in Fake-Trachtenkleidung (Kostüme: Bettina Werner), kniend mit Zahnbürsten den Boden putzend (!), in die Opferrolle. Und wer aller sind die Blondinen mit den Zöpfen? Die Geldbotinnen von FPÖ/BZÖ? Brünhild und Kriemhild? Oder doch zwei Greta-Thunberg-Jelinek-Hipster-Klimaaktivistinnen? Mit den bei Jelinek sprachlich vorliegenden Vexierbildern evoziert Borgmann ein dichtes, retardierendes Zuschauen. Er weicht jedem oberflächlichen Effekt aus, auch um den Preis, dass einiges verklausuliert bleiben wird. Umso heftiger wird dann im Foyer debattiert.

"Was machen wir jetzt mit unserer Gewalt?", hallt der Schlusssatz der Aufführung nach. Und mit ihm auch lose Videobilder von Massenaufläufen (seien es die Brexiteers, die Salvini-Anhänger, Nazis oder die Massen bei der "Salbung" des Kanzlers in der Stadthalle). In der Inszenierung sind dies die wenigen konkreten Bezüge zu einer politisch aufgehetzten Gegenwart, für die Jelinek einen Handlungsnotstand verzeichnet. Wie ein Mahnmal hängt ein großformatiges Biedermeierporträt der NSU-Rechtsextremistin Beate Zschäpe im Raum, den das Autorinnen-Ich (Peters) ratlos durchmisst. Im Schoß ihres Biedermeierrockes hält Zschäpe lächelnd eine Pistole in der Hand. Mit Trickbildern, Maskierungen und trügerischen Rahmungen setzt Borgmann Schwarzwasser in Gang. Ein beachtlicher Abend, der dem Publikum viel Dekodierarbeit abverlangt. (Margarete Affenzeller, 7.2.2020)