Wer in Zeiten des Coronavirus in Schanghai ein Stück Normalität erleben will, kann den Gemüsemarkt in der Julu Lu besuchen. Essen und Essen kaufen müssen die Menschen ja immer – selbst in einer Stadt, die sich im wahrscheinlich größten Ausnahmezustand seit 30 Jahren befindet.

Wie schon seinerzeit beim SARS-Virus ist auch diesmal das Coronavirus über einen längeren Zeitraum vertuscht worden. In den sozialen Medien machen sich Empörung und Wut breit – nach dem Tod von jenem Arzt, der als erster vor dem Virus warnte und wegen "Verbreitung von Gerüchten" behördlich abgemahnt wurde. ORF-Korrespondent Josef Dollinger berichtet aus Peking.
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Die Pensionistin Qi Changcheng steht am Eingang der Halle. Jedem, der den Markt betritt, hält sie ein Fieberthermometer an die Stirn. Das ist seit einigen Tagen Standardprozedur: Vor Wohnungsblöcken, U-Bahnhöfen oder Supermärkten stehen Freiwillige, die Fieber messen. Manchmal kommen sie auch in Restaurants hinein und überprüfen ungefragt Gäste.

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Etwa 25 Millionen Einwohner hat Schanghai – viele von ihnen sind derzeit nicht zu sehen.
Foto: Reuters / Aly Song

Wie aussagekräftig die Messungen tatsächlich sind, ist eine andere Frage. Aber den meisten vermitteln sie ein Gefühl von Sicherheit – oder zumindest von Aktivität, wo sonst nichts getan werden kann. Qi hat sich freiwillig für den Job gemeldet, Geld erhält sie dafür keines. "Wir alle kämpfen jetzt gegen das Virus", sagt die 62-Jährige, und trüge sie keine Atemschutzmaske, könnte man wahrscheinlich ein Lächeln sehen. "Jeder macht mit!"

Wie nach einer Zombie-Katastrophe

Der Weg zum Markt führt über menschenleere Straßen, Kreuzungen, die sonst im Verkehr ersticken. Ampeln, die zwar noch schalten, aber ohne Fahrer, die die Signale beachten könnten. Wer in diesen Tagen durch Schanghai spaziert, erlebt eine Stadt wie nach einer Zombie-Katastrophe. Noch immer leben hier rund 25 Millionen Menschen. Man sieht sie nur nicht mehr. Und wenn doch, dann macht man einen Bogen von mindestens zehn Meter um sie.

Ämter, Restaurants, Schulen – alles geschlossen. Weil die meisten Fabriken des Landes bis zum 10. Februar ihren Betrieb eingestellt haben, ist die Luftverschmutzung auf ein ungewöhnlich niedriges Level gefallen. Der Himmel ist blau, die Sonne scheint. Kurzum, Schanghai ist, was es besonders im Winter eigentlich nie ist: geradezu schön. Um es aber auch so zu empfinden, muss man einiges ausklammern.

Neues morgendliches Ritual

Seit Wochen nun hat das Coronavirus das Land im Griff. Für die meisten Chinesen gehört es mittlerweile zum morgendlichen Ritual, neben Nachrichten, Mails und Wetter die Zahl der Neuinfektionen und Todesfälle zu checken. Jeden Tag werden es mehr. Und solange die Zahlen steigen, nehmen auch die Maßnahmen zu, die Ansteckungsgefahr in den Griff zu bekommen.

Gesichtsmasken am Gemüsemarkt in Schanghai.
Foto: Mattheis

Im Internet überschlagen sich gleichzeitig die Verschwörungstheorien: Mal ist das Virus aus einem Labor für Biokampfstoffe ausgebrochen, mal ist die Volksbefreiungsarmee kurz davor, in Wuhan die Macht zu übernehmen, mal ist es ein Video aus dem gerade neu gebauten Spital in Wuhan, das eine Mischung aus Gefängnis und Todestrakt zeigt.

Zu den Halbwahrheiten und Fake-News kommen aber noch die ganz normalen Nachrichten: Hongkong schließt die Grenzen und steckt Besucher aus China für 14 Tage in Quarantäne. Die Stadt Wenzhou in der Provinz Zhejiang ist nun auch von der Außenwelt abgeriegelt. Dort darf pro Haushalt nur noch eine Person alle zwei Tage das Haus verlassen.

Das Innere des Marktes sieht dann tatsächlich eher so aus, als sollte man in Zeiten, in denen ein hochansteckendes Virus unterwegs ist, hier nicht allzu viel Zeit verbringen: Die Decke ist niedrig, auf den Böden liegen Gemüse-, Fleisch- und Fischreste, und trotz Krisenmodus stehen sich die Menschen hier gegenseitig auf den Füßen.

"Man muss rausgehen"

Andererseits: "Man muss rausgehen", sagt Jane Chou, "sonst wird man ja verrückt bei all diesen Nachrichten." Die 46-Jährige erledigt gerade ihre Gemüseeinkäufe. Sie kaufe mehr als sonst, für drei Tage müssen Karotten, Zwiebeln und Kohl dieses Mal ausreichen. Hamsterkäufe sehen anders aus. Vor dem Virus fürchtet sie sich nicht. "Nein, hier im Stadtteil Xuhui sind die Maßnahmen ja sehr effizient. In Pudong ist es schon schwieriger, dort ist alles so weitläufig. Und außerhalb Schanghais, davon brauchen wir erst gar nicht zu reden." Auch das ist eine altbewährte Strategie der Bewohner Schanghais, mit Katastrophen umzugehen: Schlimmer geht immer.

Fischverkäufer Qi Changcheng ist ebenfalls weit von panikartigen Zuständen entfernt. Seine Schutzmaske hängt zuerst nur lose über dem rechten Ohr. Später zieht er sie über das Gesicht, lässt aber die Nase frei: "Ich verkaufe so viel wie immer", sagt der 66-Jährige, "essen müssen die Leute ja auch jetzt." Außerdem, fügt er hinzu, seien die Spitäler in Schanghai die besten Chinas.

Gemüseverkauf via Internet

Gegenüber von Qis Fischen steht Gemüseverkäuferin Nian Xianghua. Sie hat damit begonnen, ihr Gemüse auch online zu verkaufen. "Das kompensiert die Verluste", sagt sie, als stünde sie persönlich für die berühmte Pragmatik der Chinesen, die das Land wirtschaftlich so erfolgreich gemacht hat. Bezahlen lässt sich ihr Gemüse schon lange mit dem Smartphone: Über dem Angebot hängen QR-Codes für Wechat- und Alipay, die meistgenutzten Apps Chinas.

Fieberkontrollen auf der Straße in Schanghai.
Foto: AFP / Noel Celis

Und dann ist da schließlich noch die Partei: Peking reagierte erst spät und dann überwältigend auf die Krise. Sie schnitt über 40 Millionen Menschen kurzerhand von der Außenwelt ab. Von Unmut gegen die Regierenden, etwa wegen einer verfehlten Informationspolitik, ist nichts zu spüren. Fehler, das ist das alte Herrschaftsprinzip der Kader in Peking, werden gemacht – aber immer nur von Lokalpolitikern (in diesem Fall der Bürgermeister von Wuhan). Die oberste Führung springt dann ein, um die Dinge zu richten. "Ich bin der Partei dankbar, dass sie die Preise stabil hält", sagt Qi. Ab dem 10. Februar solle sich eh alles wieder weitgehend normalisieren.

Warten auf die Normalität

Aber so entspannt wie die Käufer und Verkäufer in der Julu Lu sind längst nicht alle. Wer die Halle verlässt, ist zurück in der Krisenstadt. Dass die Stadt am 10. Februar wieder zur Normalität zurückkehrt, sprich die Geschäfte und Fabriken wieder öffnen, ist angesichts der immer noch deutlich steigenden Zahl der Infektionen unwahrscheinlich. Taxifahrer Guo zum Beispiel macht sich große Sorgen: "Ich glaube, dass 80 Prozent der Leute in Wuhan das Virus haben."

Zweimal am Tag desinfiziert er sein Auto. Während der Fahrt lässt er das Fenster immer offen. Vor einem Hauseingang sind gerade Reinigungskräfte im Ganzkörperschutzanzug zugange: Sie versprühen Desinfektionsmittel. Natürlich ist es fraglich, wie wirksam solche Maßnahmen sind. Und doch vermitteln sie ein Gefühl von Wirksamkeit in Zeiten der Ohnmacht.

Das Schlimmste am Coronavirus ist weder die Geschwindigkeit, mit der es sich ausbreitet, noch die Mortalität, die nicht höher ist als die einer normalen Grippe. Es ist die Unsicherheit, die es verbreitet: zuerst in China, dann in der ganzen Welt. (Philipp Mattheis aus Schanghai, 8.2.2020)