Brüssel im Februar 2009. In der historischen Industriehalle aus dem 19. Jahrhundert hatten auf dem Gelände der ehemaligen Zoll- und Poststation Tour & Taxis 130 Kunsthändler ihr temporäres Quartier bezogen. Wie seit 1956 schon stand die jährliche Brussels Antiques & Fine Arts Fair auf dem Programm: eine Kunstmesse, zu deren Charakteristik ein Angebot gehört, das man als Melange von Kunst und Kunsthandwerk der Weltkulturen quer durch die Jahrtausende beschreiben könnte.

Im Frühjahr 1899 starteten die Briten eine so genannte "Strafexpedition" in den Benin, die artifizielle Beute wurde anschließend teils an europäische Museen verkauft. So gelangte auch ein Konvolut von rund 90 Benin-Bronzen nach Wien.
Foto: Weltmuseum

Zu den feilgebotenen Objekten gehörte ein ungewöhnlich großer vierteiliger Beutel aus Leinen, mit goldbraunem Samt überzogen und von einem detailreich verzierten eisernen Bügel zusammengefasst. Um 1550 bis 1570 vermutlich in einer Nürnberger Werkstatt hergestellt, erklärte die Pariser Kunsthändlerin beflissen. Nachsatz: Das als Reisetasche genutzte Exemplar soll ehemals in der Sammlung eines Rothschilds gewesen sein, jener Nathaniels aus dem Wiener Zweig dieser Dynastie.

Beschlagnahme in der NS-Zeit

Eine renommierte Provenienz, die als Multiplikator für den Kaufpreis diente: 35.000 Euro sollte der Beutel kosten. Er gehörte zu jenen Gegenständen seiner Kunstsammlung, die Nathaniel Mayer Rothschild (1836–1905) seinem Bruder Albert und dessen Sohn Alphonse vererbte. Nach dem "Anschluss" wurden sie von den Nationalsozialisten zuerst beschlagnahmt, dann inventarisiert und auf Anordnung Adolf Hitlers an diverse Museen verteilt.

Zur Einordnung: Die Inventarliste der Sammlung von Alphonse umfasste 3444 Kunstwerke und Objekte, jene seines Bruders Louis 919. Vieles bekam die Familie nach dem Zweiten Weltkrieg zurück, im Rahmen von Rückstellungsvergleichen, über die man zeitgleich unzählige "Widmungen" förmlich erpresste. In einem Gastkommentar für den STANDARD attestierte Oliver Rathkolb der Republik Österreich im Jänner 1998 im Zusammenhang mit Rückstellungen nach dem Zweiten Weltkrieg zwar ein "weitgehend korrektes" Verhalten, verwies jedoch kritisch auf die mit dem Ausfuhrverbotesgesetz verknüpfte Praxis von Export-Deals. So stimmte Clarice Rothschild, die Witwe des 1942 im amerikanischen Exil verstorbenen Alphonse, einigen Schenkungen zu, um für Anderes eine Genehmigung für die Ausfuhr zu bekommen.

Die Benin-Bronzen gehörten, wie diese beiden Hofzwerge, zum Sammlungsbestand des Weltmuseums. Der einstige Ankauf wurde von mehreren Gönnern finanziert, Nathaniel Rothschild war einer von ihnen.
Foto: Weltmuseum

Die Skrupellosigkeit war erschreckend gewesen, wie der ehemalige STANDARD-Redakteur Thomas Trenkler in einem Artikel öffentlich machte. Im März 1999 erschien im Molden-Verlag das zugehörige Buch: Der Fall Rothschild – Chronik einer Enteignung, das auch nach mehr als 20 Jahren seine beschämende Wirkung nicht verfehlt.

Rückgabe & Verkauf

Als bekannteste Causa der Enteignung war sie auch die erste, auf die das 1998 geschaffene Kunstrückgabegesetz angewendet wurde, und die erste, bei welcher der Beirat im Februar 1999 eine Restitutionsempfehlung erteilte.

218 Kunstgegenstände gelangten im Juli des gleichen Jahres bei Christie’s zur Versteigerung, um den Erlös unter der Erbengemeinschaft aufzuteilen. Das Auktionshaus hatte die Erwartungen mit 420 Millionen Schilling beziffert, stattdessen spielte die Tranche 1,2 Milliarden Schilling oder umgerechnet gut 87 Millionen Euro ein.

Im Zuge der systematischen Provenienzforschung für Bundesbesitz erteilte der Rückgabebeirat neun weitere Empfehlungen, denen ebenso Restitutionen folgten, wie aus dem Bestand der Museen in den Bundesländern, darunter die Steiermark, Wien und Oberösterreich.

Der bei der Kunstmesse in Brüssel angepriesene Beutel gehörte zu Gegenständen, die 1948 als Gegenleistung für Ausfuhrgenehmigungen in der Sammlung des Oberösterreichischen Landesmuseums gelandet waren. Im Juli 2001 wurden sie Bettina Loram-Rothschild übergeben, der Beutel gelangte im Herbst 2002 bei Christie’s in London für umgerechnet 7000 Euro zur Versteigerung.

Symbol der Wohltätigkeit

Ob die Pariser Kunsthändlerin den erhofften Kaufpreis von 35.000 Euro bekam, war nicht in Erfahrung zu bringen. Den einstigen Nutzen hatte sie allerdings verkannt. Denn sie konnte die ziselierte Inschrift am Bügel nicht übersetzen, wie sie 2009 eingestand: "omnia semper dedit nobis dominus nemini ergo dabit unquam minus" – "Alles hat uns der Herr gegeben, niemandem wird er daher jemals zu wenig geben."

Legendärer Wohltäter: Nathaniel Mayer Rothschild (1836-1905) unterstützte, der Familientradition entsprechend, auch den Wiener Kunst- und Kulturbetrieb. Von ihm finanzierte Ankäufe gerieten in Vergessenheit.
Foto: ÖNB-Bildarchiv

Demnach handelte es sich um einen sogenannten Almosenbeutel, und daraus ergab sich auch die symbolische Verknüpfung zu Nathaniel Rothschild, der eine ungewöhnliche Großzügigkeit pflog.

Beispielhaft dafür stehen zahlreiche seiner wohltätigen Stiftungen, die der Wirtschaftshistoriker Roman Sandgruber exemplarisch in einem aktuellen Gastkommentar (siehe "Kommentar der anderen") nennt. Darunter auch jene Stiftung, die seiner testamentarischen Verfügung zufolge 1907 mit einem Kapital von umgerechnet etwa 120 Millionen Euro gegründete wurde und die nun Gegenstand einer Klage gegen die Stadt Wien ist.

Koloniales Erbe

Zur Tradition der Familie Rothschild hatte auch stets die Unterstützung des heimischen Kulturlebens gehört. Zu den Profiteuren gehörten kleinere wie größere Institutionen.

Wie viele Ankäufe sie über die Jahrzehnte finanzierte, die sich noch heute in den öffentlichen Sammlungen befinden, ist unbekannt. Man stolpert eher zufällig darüber. Etwa in der ethnografischen Sammlung des KHM, kurz des Weltmuseums.

Im Detail geht es um die Gruppe von Objekten aus dem Königreich Benin, dem heutigen Nigeria, die im Zuge der jüngsten Debatte rund um die Rückgabe kolonialer Kulturgüter in den Fokus rückte. Vorweg, ein Antrag auf Restitution dieses spezifischen Bestands liegt nicht vor. Das Weltmuseum arbeitet, wie zahlreiche andere europäische Institutionen auch, seit einigen Jahren mit der National Commission for Museums and Monuments Nigeria zusammen.

Symbol für Wohltätigkeit: Diese so genannte Almosentasche aus dem 16. Jahrhundert war einst in der Sammlung von Nathaniel Rotschild, die er seinem Bruder Albert und seinem Neffen Alphonse vererbte und die in der NS-Zeit beschlagnahmt wurde. 1948 gelangte sie als Gegenleistung für Ausfuhrgenehmigungen restituierter Objekte in den Bestand des Oberösterreichischen Landesmuseums. 2001 wurde sie restituiert.
Foto: Christie’s

Dabei steht der Umgang "mit diesem schwierigen gemeinsamen Erbe" im Vordergrund, wie die zuständige Kuratorin Nadja Haumberger in einem STANDARD-Interview 2018 formulierte. Angedacht ist ein Museum in Benin-City "mit rotierenden Leihgaben aus europäischen Häusern". So weit, so gut.

Mäzene britischer Kriegsbeute

Wie es zu den Ankäufen kam? Sie kamen als britische Kriegsbeute nach Europa und gelangten teils über öffentliche Auktionen in europäische Museen und Privatsammlungen. Auf Anfrage verweist man auf eine Hauspublikation des "K.K. Naturhistorischen Hofmuseums" aus dem Jahr 1901. Zusammengefasst waren 91 Objekte von einem britischen Kapitän namens W. A. Maschmann zum Kauf angeboten worden. Mangels ausreichender Mittel wurde die Sammlung "durch eine Subscription beschafft" und dem Museum geschenkt.

Die historischen Umstände der sogenannten "Strafexpedition", die die Briten im April 1899 aufgrund einer "Metzelei" des Königs von Benin 1897 starteten, blieben unerwähnt. Man kann sie in den historischen Zeitungsberichten nachlesen. Als interessant erweist sich auch ein im Oktober 1900 veröffentlichter Vortrag des verantwortlichen Kustoden Franz Heger: "In einem entlegenen Erdenwinkel" seien "durch einen Zufall hunderte der merkwürdigen Objecte" zutage gekommen, "welche die kleine Gemeinde der Ethnographen in eine noch nie dagewesene Aufregung versetzten". Der "völlige Entgang" solcher Objekte "für das Hoffmuseum", rapportierte ein Kollege, hätte "einen nicht zu ersetzenden Verlust bedeutet".

Eine Reihe von Förderern ermöglichte schließlich den Ankauf. Ihre Namen sucht man online vergeblich: Dazu gehörte, neben dem damaligen Fürsten von Liechtenstein, Markgraf Alexander Pallavicini oder Nikolaus Dumba auch "Baron Nathaniel Rothschild". (Olga Kronsteiner, ALBUM, 8.2.2020)