Die Rothschild-Stiftung – ein Nachfahre will vor Gericht die Abberufung des Magistrats als Stiftungsverwalter und die Wiedereinsetzung eines unabhängigen Kuratoriums durchsetzen – gerät zum Politikum. Im Gastkommentar beleuchtet der Wirtschaftshistoriker Roman Sandgruber die historischen Zusammenhänge. Lesen Sie dazu auch einen Beitrag über den Umgang der Nationalsozialisten mit Nathaniel Rothschilds Kunstsammlung.

Illustration: Felix Grütsch

"Wir brauchen keine Nachhilfe in Geschichte", meinte der Wiener Gesundheitsstadtrat Peter Hacker jüngst im "Profil" als Antwort auf kritische Bemerkungen von Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka und auf eine Klage der amerikanischen Rothschild-Nachfahren: "Die Stadt Wien hat immer gezeigt, wie verantwortlich sie mit der NS-Geschichte umgeht." Es geht in dem Disput um die gemeinnützige "Nathaniel Freiherr von Rothschild’sche Stiftung für Nervenkranke", die von den Nationalsozialisten enteignet und deren Vermögen der Stadt Wien übergeben wurde und die nie mehr im Sinne des Stifters wiedererrichtet worden ist.

Der 1905 verstorbene Baron Nathaniel Rothschild ist durch seine wohltätigen Stiftungen berühmt geworden. Nie vorher und nie nachher in der österreichischen Geschichte hat ein Einzelner derart hohe Summen für die Allgemeinheit gespendet. Es sind unzählige kleinere und größere Posten: die Lungenheilstätte in Alland, das Schloss und die Militärstiftung in Reichenau mit mehreren Millionen Kronen, die Wiener Poliklinik mit einer Million, die Wiener Freiwillige Rettungsgesellschaft mit einer Million. Weitere zwei Millionen Kronen für insgesamt 177 wohltätige Vereine und Anstalten ohne Unterscheidung der Konfession stehen in seinem Testament.

Größte Einzelspende

Am wichtigsten aber ist seine Stiftung für Nervenkranke am Wiener Rosenhügel. Sie ist mit 20 Millionen Kronen die größte Einzelspende, die in Österreich jemals gemacht worden ist. Wie hoch diese Summe war, wird deutlich, wenn man sie mit der ziemlich genau zum gleichen Zeitpunkt errichteten niederösterreichischen Heil- und Pflegeanstalt Mauer-Öhling vergleicht, die zwischen 1898 und 1902 auf etwa 100 Hektar mit mehr als 40 Objekten, Pavillons, Direktionsgebäude, Kirche, Aufbahrungshalle, Gesellschaftsraum, Pflegerhäusern et cetera, angelegt worden war und insgesamt vier Millionen Kronen gekostet hatte.

Nach dem Tod Nathaniel Rothschilds 1905 wurde dem Testament entsprechend die Stiftung 1907 eingesetzt und in der Folge die Nervenheilanstalten am Rosenhügel im 13. Wiener Gemeindebezirk und im Maria-Theresien-Schlössel im 19. Bezirk errichtet. Am 19. Dezember 1938 wurde die Stiftung von den Nationalsozialisten aufgelöst und ihr Vermögen der Gemeinde Wien übergeben. 1942 verkaufte die Gemeinde davon 67.000 Quadratmeter an die Wien Film Ges.m.b.H (Studio Rosenhügel) um 373.000 Reichsmark. Zudem erhielt die Stadt Wien 500.000 Reichsmark für die "Beeinträchtigung der städtischen Nervenheilanstalt Rosenhügel und die (…) gärtnerische Umgestaltung".

Kurioses Scheingefecht

Als 1956 die Nathaniel Freiherr von Rothschild’sche Stiftung mit Urteil der Rückstellungskommission in ihrer Rechtspersönlichkeit wiederhergestellt werden musste, mündete das in ein kurioses Scheingefecht innerhalb der städtischen Bürokratie. Rückstellungswerber war in Vertretung der Rothschild’schen Stiftung die MA 12, Rückstellungsgegner, quasi also Ariseur, in Vertretung der Stadt die MA 65. Man machte aufwendige gegenseitige Aufrechnungen, wie man sie aus vielen, oft ausgesprochen befremdlichen Rückstellungsverfahren kennt.

Am 20. Juni 1962 informierte man schließlich den damaligen Vizebürgermeister Felix Slawik über den Abschluss eines Vergleichs zwischen den beiden Magistratsabteilungen. Sie verzichteten gegenseitig auf ausstehende Forderungen. 500.000 Schilling, also etwa 65.000 Euro, erhielt die Rothschild-Stiftung von der Stadt für die an die Wienfilm verkauften 67.000 Quadratmeter, sprich: die MA 12 von der MA 65. Die Stadt wurde im Gegenzug mit der Verwaltung der Stiftung betraut und in die Rechtsnachfolge der Stiftung eingesetzt. Statt des früheren unabhängigen zwölfköpfigen Beirats saßen nun zwei Beamte in der Stiftung, die in weiterer Folge mehrere Grundstücke verkaufte, zuletzt 1977 etwa 2500 Quadratmeter im 13. Bezirk um etwa 500.000 Euro und 2002 das Maria-Theresien-Schlössel an die Stadt um den auffallend niedrigen Preis von 6,6 Millionen Euro.

"Ich gehe davon aus, dass die damals handelnden Damen und Herren die richtigen Entscheidungen getroffen haben", rechtfertigte Hacker die Vorgangsweise im Jahr 1956 und in den folgenden Jahren. Hat man damals in Wien wirklich so verantwortungsvoll gehandelt und war die Restitutions- und NS-Politik der Stadt tatsächlich so vorbildlich, wie Hacker meint? Die Wiener Rothschilds sind nicht nur ausgestorben, sondern wurden ausgelöscht. Es gibt in Wien heute nicht mehr viel, was an sie erinnern könnte.

Gesichtslose Nachkriegsbauten

Die beiden Palais im vierten Bezirk, das kaum beschädigte Palais Albert Rothschild in der Prinz-Eugen-Straße, das nach der Neuen Hofburg größte und bedeutendste Palais des Wiener Historismus, und das etwas stärker von den Kriegshandlungen in Mitleidenschaft gezogene Palais Nathaniel Rothschild in der Theresianumgasse wurden gegen heftigsten Widerstand des Denkmalamts in den 1950er-Jahren von der Wiener Arbeiterkammer abgerissen. Die Kammer rechtfertigt ihr Vorgehen in einer kleinen Dauerausstellung wahrheitswidrig mit der Baufälligkeit der Palais.

Wo einst der Inbegriff des Kapitals residierte, dann Eichmann und die SS, amtieren jetzt in gesichtslosen Nachkriegsbauten die Kammer für Arbeit und Wirtschaft und ihr Fortbildungsinstitut. Die berühmten Säle des Palais Rothschild, der goldene und der silberne, fanden in zerstückelter Form in einem Gewerkschaftshaus für eine Tanzschule Verwendung. Dem berühmten Rothschild-Spital am Währinger Gürtel erging es nicht anders. Es wurde an die Wirtschaftskammer verkauft, abgerissen und durch das Wirtschaftsförderungsinstitut ersetzt. Der Kapitalismus der Sozialpartner ist an die Stelle des Rothschild-Kapitalismus getreten. Auch das 85.000 Quadratmeter große Areal der berühmten Nathaniel-Rothschild-Gärten im 19. Bezirk ist in der NS-Zeit ins Eigentum der Stadt übergegangen und wurde überbaut und umbenannt.

Ausgelöschte Erinnerungen

Der Rothschild’sche Nordbahnhof, das prächtigste Bahnhofsgebäude auf dem europäischen Festland, wurde am 21. Mai 1965 gesprengt. Das lebensgroße Standbild Salomon Rothschilds in der Bahnhofshalle, das bereits kurz nach dem Einmarsch demontiert worden war, überdauerte in einer Ecke der Eisenbahnabteilung des Technischen Museums und ist nun im Jüdischen Museum. "Auch die Judendenkmäler verschwinden", triumphierte der Völkische Beobachter am 29. November 1938. Nichts mehr in Wien sollte an Rothschild erinnern.

Auch der Name der altehrwürdigen Rothschild’schen Credit-Anstalt, der über 150 Jahre hinweg größten Bank Österreichs, ist inzwischen getilgt und durch Unicredit ersetzt. Erst seit 2016 gibt es in Wien einen Rothschildplatz, in der Bauwüste auf dem ehemaligen Nordbahnhofgelände, wo jetzt der Hauptsitz der Bank Austria Unicredit, der Nachfolgerin der alten Credit-Anstalt, zu finden ist.

Dass der NS-Euthanasiearzt Heinrich Gross, der 1950 vom Volksgericht Wien zu zwei Jahren schweren Kerker verurteilt worden war, 1951 seine Karriere unbeschädigt just in der Nervenheilanstalt Rosenhügel im Dunstkreis von SPÖ und BSA fortsetzen konnte und 1957 zum Primar am Steinhof und zum vielbeschäftigten Gutachter aufstieg, passt in dieses Muster des gar nicht so vorbildlichen Umgangs mit der NS-Geschichte.

Da schaut die Gier aus den Augen raus, meinte Hacker mit einem durchaus nicht unbekannten Unterton über die Kritiker des Wiener Umgangs mit dem Rothschild-Erbe. Lernen Sie Geschichte, Herr Hacker, möchte man ihm mit einem berühmten Kreisky-Wort antworten. (Roman Sandgruber, 9.2.2020)