Der Trompeter und Bandleader Wynton Marsalis über das Jazz at Lincoln Center Orchestra: "Wer bei uns mitmachen will, sollte seelenvoll spielen."
Foto: Joe Martinez

Es gab tatsächlich Zeiten in New Orleans, da konnte Trompeter Wynton Marsalis mit Jazz wenig anfangen. Als Duke Ellington in der Stadt war, ging er mit seinem Vater, Pianist Ellis Marsalis, nicht hin. Sport war wichtiger. Und als Marsalis in die Pubertät einbog, zog er es vor, in Funkbands zu spielen, während sein Vater in Klubs nicht selten vor spärlicher Publikumskulisse seinen Klavierdienst in einem Stil verrichtete, der dem Sohn noch immer wenig zu bedeuten schien. Es sollte sich ändern. Eines sehr frühen Morgens, so gegen zwei Uhr, ging Wynton in den Klub, "wo mein Vater seinen Gig spielte, doch niemand war da. Ich sagte: Lass uns doch nach Hause gehen, es ist doch niemand hier – außer uns beiden!"

Wichtige Lektionen

Vater Ellis aber sprach: "Der Gig hört um 2.30 Uhr auf! Also setz dich hin und hör zu!" Wynton blieb und staunte: "Ich dachte: Was bringt einen Typen dazu, zu so einer Stunde vor null Leuten Klavier zu spielen? Letztlich veränderte dieses Erlebnis mein Leben, mein Verständnis von Kunst. Dieses Ausmaß an Integrität war unglaublich, dieses Vergnügen am Spiel und der Glaube an die Sache. Wenn ich heute auf die Bühne gehe, denke ich an diese Nacht, sie kommt immer wieder zurück zu mir."

Mit leeren Sälen und Jazzklubs musste sich Wynton Marsalis (Jahrgang 1961) allerdings nie auseinandersetzen. Als einer der virtuosesten Trompeter des Jazz wurde er mit den Jahren zu einem der mächtigen Traditionsadvokaten des Genres. Mit dem Jazz at Lincoln Center Orchestra befeuert er durch Konzerte und pädagogische Projekte global die Popularisierung des Stils. Dass er kein Freund der Avantgarde ist, Jazz für ihn vor dem Free Jazz endet und Fusion jenen Sündenfall darstellt, den Miles Davis zu verantworte hätte, ist gewissermaßen die dunkle Seite seines Engagements. Insofern lohnt es sich, Marsalis in puncto Jazzdefinition nicht die Deutungshoheit zu überlassen.

Wunder der Trompete

Zweifellos aber ist es auch Marsalis’ Verdienst, mit seiner jazzigen Originalklangbewegung und seinem Neotraditionalismus auf die Wurzeln und die Bedeutung einer Kunstform verwiesen zu haben, in der afroamerikanische Erfahrungen von Diskriminierung und Erniedrigung eingraviert sind. Marsalis bräuchte missionarische Ambitionen nicht. Als Wunderkind der Trompete spielte er schon als Knirps Joseph Haydns Trompetenkonzert, Grammys sind ihm zugeflogen. Und sehr bald landete er mitten in einer der hitzigsten Band des Soul Jazz – in Art Blakeys Jazz Messengers: "Bei Blakey habe ich spielen gelernt, ich war ja nicht so gut. Er gab mir die Möglichkeit zu lernen. Er mochte auch meinen Bruder Branford, der als Saxofonist in der Band war. Nein, es stimmt nicht, dass ihn Blakey in die Band holte, nur um mich zu binden", pulverisiert Marsalis ein Gerücht, das Branford Marsalis gegenüber dem STANDARD gesteuert hatte.

Wie auch immer. Bei seinem Gastspiel im Wiener Konzerthaus wird Marsalis natürlich auf die Kunst verblichener Jazzgrößen hingewiesen. Mit seinem Lincoln Center Orchestra gibt es Braggin’ in Brass als Feier der Stileigenheiten, die große Blechbläser im Jazz geprägt haben. Gefeiert werden auch 25 Jahre Demokratie in Südafrika. Und der Thelonious-Monk-Abend widmet sich einem schrägen Genie, das sich Marsalis durchaus als Mitglied des Lincoln Orchestra hätte vorstellen können. Monk käme ja auch aus der Tradition des Bandleaders Duke Ellington und habe selbst phasenweise eine Big Band sein Eigen genannt.

Geschichte verstehen

Monk also vielleicht. Nicht jeder allerdings könnte Teil dieser New Yorker Formation werden, der Marsalis als künstlerischer Leiter vorsteht: "Wer bei uns mitmachen will, sollte seelenvoll spielen, einzigartige technische Fähigkeiten besitzen und das Bedürfnis verspüren, mit anderen im Ensemble zu arbeiten – natürlich sollte er auch die Tradition verstehen! Aber es ist alles sehr bunt gemischt bei uns. Der eine kommt aus Georgia, wuchs quasi in der Kirche auf, der andere kommt aus der Bronx. Alle sind jedoch von der Mission erfüllt, diese Kunstform zu vermitteln. Jedes Konzert ist eine besondere Möglichkeit! Wir nehmen nichts für selbstverständlich! Unsere Institution ist dazu da, im Sinne des Jazz zu erziehen und zu unterhalten."

Es würde nicht wundern, wenn Marsalis im Sinne der Bildung auch bei Konzerten dazu auffordern würde, immer auch von seinem Wahlrecht Gebrauch zu machen. Er jedenfalls freue sich auf November, wenn entschieden wird, ob Donald Trump eine weitere Amtszeit bekommt. "Ich freue mich immer, mein Wahlrecht in Anspruch nehmen zu können. Meinem Großonkel ist es noch verwehrt worden. Ich ziehe mich würdig an und versuche, einer der Ersten im Wahllokal zu sein, wenn es öffnet. Ich ehre damit auch meinen Großonkel", sagt Marsalis, der Rassismus als "Realität" bezeichnet. Es sei nicht besser geworden, "es ist nur für manche besser geworden. Aber für manche war es immer schon besser ...". (Ljubiša Tošić, 8.2.2020)