Ausgerechnet eine, die angeblich nur noch aus Vergangenheit besteht, hofft auf die Zukunft: "Das ist ein tiefer Einschnitt für uns alle", kommentierte Angela Merkel den Abschied der Briten aus der EU. Doch es wäre nicht die deutsche Kanzlerin, würde sie nicht sofort ein Signal der Ruhe und Zuversicht aussenden: "Die 27 Mitgliedsstaaten der EU werden alles daran setzen, Europa weiter erfolgreich zu entwickeln."

Merkels "Wir schaffen das"-Mantra hatte Europa schon dazu ermuntern sollen, die Flüchtlingskrise zu meistern. Nun sieht sie auch im Brexit kein Drama. Europa soll ein enger Partner und Freund der Briten bleiben, denn: "Uns vereinen gemeinsame Werte."

Ist aber die 65-Jährige überhaupt noch in der Lage, maßgeblich mitzureden bei der Führung des neuen, auf 27 Partnerstaaten verkleinerten Europas? Denn schließlich hatte sie 2018 erklärt, sich zwar von der CDU-Spitze zurückzuziehen, aber dennoch Bundeskanzlerin bleiben zu wollen. Viele bescheinigen ihr seitdem, eine Politikerin am Abstellgleis zu sein, eine Lame Duck, eine Untote, ein Zombie.

Politisches Vermächtnis

Doch es spricht einiges dafür, dass jene irren, die meinen, Merkels Führungsrolle in der EU gehöre der Vergangenheit an – wie etwa Die Welt schrieb. Angela Merkel weiß zwar, dass das Ende ihrer politischen Karriere kurz bevorsteht – doch sie hat noch genug Möglichkeiten, Europa ein politisches Vermächtnis zu hinterlassen, mit dem sich gut arbeiten lässt.

Da ist zunächst dieser "tiefe Einschnitt" des Brexits: Der muss behandelt werden, bevor er chronische Phantomschmerzen verursacht. Europa muss neu aufgestellt werden – und das ist nicht allein die Aufgabe der EU-Kommission, sondern vor allem der Staats- und Regierungschefs. Die mehr oder weniger großen Würfe, die mehr oder weniger geglückten Weichenstellungen, sie alle wurden in erster Linie von Politikern wie François Mitterrand, Helmut Kohl, Margaret Thatcher und anderen ersonnen, geplant und umgesetzt.

Merkel bekommt noch einmal die Chance, Europa ihren Stempel aufzudrücken und sich in die Galerie dieser Politpromis einzureihen. Gelegenheiten gibt es dafür heuer noch genug.

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Europa muss nach dem Brexit neu aufgestellt werden. Angela Merkel kann darauf Einfluss nehmen.
Foto: AP Photo/Olivier Matthys

Natürlich ist es Zufall, dass der erste deutsche EU-Ratsvorsitz seit 13 Jahren ausgerechnet ins zweite Halbjahr 2020 fällt. Für Merkel ist dieser Zufall jedenfalls sehr charmant. Sie hat schon erkennen lassen, dass sie ihre Rolle als Gastgeberin Europas perfekt vorbereitet ausüben will. Die deutsche Führungsrolle in Europa soll gefragt sein – und bleiben.

"Stark, souverän, sozial": Für ein solches Europa werde sich Deutschland einsetzen. So zeichnete Außenminister Heiko Maas (SPD) schon vor Wochen die Linie, der Europa folgen möge. Die Erwartungen der anderen 26 EU-Länder sind hoch, soll doch in dieser Phase der siebenjährige EU-Finanzrahmen fixiert und endgültig der Kurs bei den künftigen Beziehungen mit den Briten eingeschlagen werden – diese wollen bekanntlich bis zum 31. Dezember alle Handels- und sonstigen Zukunftsverträge unter Dach und Fach bringen.

Eine solche Herkulesaufgabe verlangt nicht nur Verhandlungsgeschick, sondern auch viel Umsicht und hervorragende inhaltliche Vorbereitung. Man darf ruhig annehmen, dass es die Mehrheit der EU-Staats- und Regierungschefs sehr beruhigt, dass die Fäden in dieser entscheidenden Zeit bei Merkel zusammenlaufen.

Schlüsselrolle für Berlin

Auch bei den Problemfeldern Klimawandel und Migration haben die Deutschen die Chance, 2020 eine Schlüsselrolle zu spielen. Weitere Themen in Merkels Pflichtenheft sind neben einer "fairen Handelspolitik" auch die Unterstützung östlicher und südlicher Nachbarn bei Reformvorhaben sowie die Ausrichtung eines EU-China- und eines EU-Afrika-Gipfels. Außerdem auf der Agenda: Harmonisierung der Sozialleistungen in der EU und der Kampf gegen Antisemitismus.

Dass Merkel große Themen durchaus noch stemmen kann, zeigt nicht zuletzt ihr Agieren in Sachen Libyen. Eine internationale Konferenz im Jänner in Berlin erwies sich – mit Einschränkungen – als Erfolg: Die Konfliktparteien wollen es nun ehrlich versuchen mit einem dauerhaften Waffenstillstand.

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Eine internationale Libyen-Konferenz im Jänner in Berlin erwies sich für Angela Merkel als Erfolg.
Foto: Michael Kappeler/Pool via Reuters

Der Kollege in Paris

Ginge es nach Merkel, könnte vor allem die EU-Politik mit etwas Umsicht und genug Weitblick gut gemanagt werden. Doch da gibt es einen Kollegen, der in seinem Büro, im 900 Kilometer entfernten Pariser Elysée-Palast mitunter ganz andere Vorstellungen davon hat. Das Verhältnis der Kanzlerin zu Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron ist durchaus von Spannungen gekennzeichnet.

Während sie mit dessen Vorgänger François Hollande durchaus harmonierte, läuft längst heute nicht alles glatt in der deutsch-französischen Achse. Sonnenklar wurde das im vergangenen Herbst, als Macron der Nato den "Hirntod" diagnostizierte. "Ich glaube, ein solcher Rundumschlag ist nicht nötig", konterte Merkel ungewohnt deutlich, gab aber zu: "Wir haben Probleme, wir müssen uns zusammenraufen."

Vor genau einem Jahr echauffierte sich Macron zudem über die deutsch-russische Pipeline Nord Stream 2 und sagte ihretwegen auch seine Teilnahme an der Münchener Sicherheitskonferenz ab – ein doppelter Affront gegenüber Merkel. Auch sein Veto zu EU-Erweiterungsgesprächen für Nordmazedonien und Albanien irritierte Merkel. Denn aus ihrer Sicht konterkariert ihr Kollege auf diese Weise die EU, deren Berechenbarkeit und Verlässlichkeit so auf dem Spiel stünden.

Heute läuft längst nicht mehr alles glatt in der deutsch-französischen Achse.
Foto: APA/AFP/JOHN MACDOUGALL

Da haben wir also zwei überzeugte Europäer mit recht unterschiedlichen Visionen von Integration und Zukunft. Ohne London im Kreis der Prätendenten für eine europäische Führungsrolle mag es zwar formal leichter geworden sein für die beiden, doch tatsächlich werden sie nur etwas bewegen können, wenn sie sich – Zitat Merkel – "zusammenraufen".

Beide wissen, dass die EU, egal mit wie vielen Mitgliedern, ohne ein Zusammenspiel von Berlin und Paris nicht funktionieren kann. Diese Kooperation ist mehr denn je "alternativlos". Da ist sie schon wieder: eine oft belächelte und dennoch sehr wahre Merkel-Floskel.

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Emmanuel Macron beteuert, den Brexit "natürlich nicht gewünscht" zu haben. Heiße Tränen vergoss der französische Präsident dennoch nicht. Seine Diplomaten meinen im Gespräch diskret, aber unumwunden, der Rückzug des Vereinigten Königreiches sei für die EU "kein Verlust". Und die "Libération" titelte in Englisch: "It’s time" – es ist an der Zeit, dass der Brexit endlich umgesetzt wird.

Macron hatte schon im vergangenen Oktober bei dem entscheidenden EU-Gipfel darauf gedrängt, dass die Briten so schnell wie möglich austreten sollten; erst als er einsah, dass er mit dieser Haltung allein dastand, lenkte er auf das neue Brexit-Datum, 31. Jänner, ein.

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Emmanuel Macron drängte stets auf einen schnellen Austritt des Vereinigten Königreichs.
Foto: REUTERS/Johanna Geron

In Brüssel bekam er auch von deutscher Seite den Vorwurf zu hören, er handle wie seinerzeit Charles de Gaulle, der in den 1960er-Jahren zweimal sein Veto gegen den Beitritt Großbritanniens zur Europäischen Gemeinschaft eingelegt hatte. Tatsächlich hießen die Franzosen erst 1973, unter dem anglophilen Georges Pompidou, die Nachbarn jenseits des Ärmelkanals in der EG willkommen.

Noch diese Woche schrieb der Europaexperte an der Eliteuniversität Sciences Po, Patrick Martin-Genier, er sei froh über den Brexit: "Die Erleichterung ist umso größer, als das Vereinigte Königreich in 47 Jahren Mitgliedschaft immer nur das Ziel verfolgte, die Europäische Union zu schwächen und daraus eine Freihandelszone ohne politischen Willen zu machen."

Macron selbst ist überzeugt, seinen europäischen Führungsanspruch ohne die Briten besser umsetzen zu können. Ohne sie fühlt er sich bedeutend freier, die französische EU-Konzeption eines integrierten Wirtschaftsraumes zu propagieren.

Von Grund auf reformieren

Seine Idee eines gemeinsamen Budgets und Finanzministers für die Eurozone hatte er 2017 im Gefolge der Brexit-Abstimmung vom Juni 2016 geboren. Um die EU vor innerem Zerfall zu retten, wie er sagte, müssten die verbleibenden Mitglieder sie von Grund auf reformieren. Und reformieren heißt für Macron integrieren – durch die Vertiefung der gemeinsamen europäischen Strukturen und die Harmonisierung nationaler Unterschiede.

Europaministerin Amélie de Montchalin macht Druck: "Wir brauchen jetzt konkrete Resultate. Gefährliche Auflösungstendenzen sind möglich, wenn wir unsere Projekte, Ziele, Ambitionen nicht beschleunigt in die Tat umsetzen."

Die EU-Integration ist der Hauptantrieb französischer Europapolitik. Sie ist Macrons Steckenpferd und Strategie, verfolgt sie doch ein europäisches Ideal, aber auch ein sehr realpolitisches Fernziel: die Vergemeinschaftung von Investitionen, Steuern und Staatsschulden. Gemeint – wenn auch nicht offen gesagt – ist damit aus französischer Sicht der Einsatz der deutschen Wirtschaftskraft für die europäischen Belange. Oder in der historischen Perspektive ausgedrückt: die An- oder zumindest Einbindung des großen Nachbarn jenseits des Rheins.

Das gleiche Ziel hatte schon François Mitterrand verfolgt, als er seine Zustimmung zur deutschen Wiedervereinigung davon abhängig machte, dass Helmut Kohl bereit war, die Mark im Euro aufgehen zu lassen. Mitterrand hatte 1991 auch die Bildung des Weimarer Dreiecks aus Deutschland, Frankreich und Polen angeregt. Für den Kriegsveteranen hatte dieses Dreiergremium vor allem den Zweck, Deutschland daran zu erinnern, dass es im Westen und im Osten von zwei großen Nachbarn eingerahmt wird.

François Mitterrand (rechts) machte seine Zustimmung zur deutschen Wiedervereinigung davon abhängig, dass Helmut Kohl (links) bereit war, die Mark im Euro aufgehen zu lassen.
Foto: EPA PHOTO/AFP/GERARD FOUET

Nicht zufällig will Macron das Weimar-Format nach vollzogenem Brexit reaktivieren: Noch heuer lädt er die deutschen und polnischen Freunde nach Frankreich ein. Zugleich versprach er, sich in Zukunft mit den Regierungschefs der Visegrád-Staaten Polen, Ungarn, Tschechien und Slowakei vor EU-Gipfeln abzusprechen. Das tun die Franzosen bisher nur mit den Deutschen.

Ganz offensichtlich veranlasst der Brexit den französischen Staatschef, neue Partner östlich von Deutschland zu suchen. Die Visegrád-Staaten lassen sich gerne bitten, staunen aber doch: Noch vor kurzem hatte Macron für eine neue europäische Partnerschaft mit Russland geworben; und dabei ging es ihm stärker um die Abgrenzung zur Nato und zu den USA als um die Interessen Osteuropas. Auch die Vergemeinschaftung der Finanzen oder der Migrationspolitik stoßen bei den Polen und Ungarn auf wenig Zuspruch.

Macrons Ost-Charmeoffensive dürfte nur begrenzte Wirkung haben. Er hatte sich auf der EU-Bühne zuletzt im Gegenteil eher isoliert. Innenpolitisch ist er nach anderthalb Jahren heftiger Sozialproteste (Gelbwesten, Rentenkonflikt) ohnehin angeschlagen.

Skeptische Landsleute

Seine Strategie der forcierten EU-Integration stößt auch bei seinen Landsleuten auf Skepsis: Sie hatten eine EU-Verfassung, eine institutionelle Vertiefung, 2005 an den Wahlurnen zurückgewiesen. Auf den Brexit mit noch mehr EU zu reagieren, scheint vielen Franzosen die falsche Lösung zu sein.

Die Macronisten wollen aber das Brexit-Momentum ausnützen. In der Europäischen Zentralbank können sie heute auf Christine Lagarde zählen, und in Frankreich wächst die Wirtschaft, während die Arbeitslosigkeit sinkt. Der Zeitpunkt ist günstig, und der Präsident wartet nur noch auf Berlin. Jetzt ziehe die Brexit-Ausrede für das deutsche Zuwarten nicht mehr, bedeutet Macron der deutschen Kanzlerin. Sie soll endlich reagieren: investieren, vertiefen, vergemeinschaften.

Spielt Angela Merkel nicht mit, könnte der ungeduldige Staatschef schnell auf Konfrontationskurs gehen. Auch wenn er weiß, dass Deutsche und Franzosen ohne die Briten mehr aufeinander angewiesen sind denn je: Er steht in Paris unter Druck und muss vor den Präsidentschaftswahlen 2022 Resultate liefern.

Während er die Geduld mit Merkel verliert, muss sie aber auf die deutschen Sparer hören und Macrons Ambitionen bremsen. Deshalb ist fraglich, ob der Rückzug der Briten die Deutschen und Franzosen wirklich zusammenschweißen wird. Der Brexit dürfte die Spannungen zwischen Berlin und Paris eher verschärfen, wenn die unterschwelligen Differenzen offen ausbrechen. (Gianluca Wallisch, Stefan Brändle aus Paris, 8.2.2020)