Esel gelten als eigensinnig, störrisch und bissig, aber auch als sensibel, duldsam und gelehrig. Nicht selten sind sie im Zirkus aufgetreten, um dort – wie Pferde, Hunde oder Schweine – zu rechnen und zu buchstabieren. In seinem großartigen Eselsfilm Au hasard Balthazar (von 1966), dieser Passionsgeschichte eines Esels, hat Robert Bresson seinen Helden auch in der Zirkusarena auftreten lassen; er bestand freilich darauf, die Zirkusszenen, für die der Esel dressiert werden musste, mehrere Monate nach dem vorläufigen Ende der Dreharbeiten zu filmen, denn der Esel sollte nicht zum Schauspieler erniedrigt werden.

Führt einen gebildeten, auch mit den Daumen lesbaren Dialog mit einem Esel: Ernst Strouhal.
Foto: Brandstätter-Verlag

Balthazar blieb dennoch unnahbar für den Regisseur, wie Anne Wiazemsky, die 2017 verstorbene Darstellerin der Marie, erinnert: Stundenlang habe Bresson auf den Esel eingeredet und ihn angefleht, bis das Team kurz davorstand, einem hysterischen Lachkrampf zu erliegen. Irgendwann habe der Regisseur entmutigt resigniert: "Er hört nicht auf mich."

Lippen und Ohren

Klug und eloquent, zugleich stets unnahbar und manchmal ärgerlich, so zeigt sich auch der Esel in Ernst Strouhals Gespräch mit einem Esel auf der Kykladeninsel Kea in der Ägäis. Die gebildete Konversation streift viele Themen: von Marcel Prousts Madeleines bis zur Frage nach der Fähigkeit der Tiere zu sprechen, zu lesen oder zu schreiben, von Bileams Eselin im vierten Buch Mosebis zu Buridans Esel, der sich nicht entscheiden kann, aus welcher Schüssel er fressen soll, von antiker Fabeldichtung bis zur Naturkunde Buffons oder Brehms.

Zitiert wird aus Philosophie und Literatur; zugleich porträtiert Strouhal die Physiognomie des Esels, etwa die Bewegungen seiner Lippen und Ohren. Immer wieder klärt der Esel seinen Gesprächspartner auf: Was wir etwa für seine Duldsamkeit halten, sei tatsächlich Gleichgültigkeit. "Wir Esel sind Randfiguren der Geschichte", bemerkt der Esel, nicht ohne zu demonstrieren, dass wichtige Einsichten gerade vom Rand aus gelingen: "Je weniger Zukunft ihr habt, desto mehr fragt ihr nach eurer Herkunft."

Ein Schlüsselsatz: Er baut die Brücke zu einem Thema, das in Ernst Strouhals Eselsgespräch gleich mehrfach – und auf verschiedenen Ebenen – verhandelt wird, nämlich zu Francisco de Goyas Caprichos, entstanden an der Wende zum 19. Jahrhundert. Die 39. Aquatinta-Radierung zeigt einen Esel in Hosen und Wams, der in einem Buch blättert. Die aufgeschlagene Doppelseite des Buchs zeigt Profildarstellungen einer Reihe von Eseln, die jeweils zu zweit untereinander stehen, also eine Art von Stammbaum zu bilden scheinen, der jedoch keine Abstammungslinien verzeichnet. Der Titel des Blatts lautet schlicht Asta su Abuelo, "Wie sein Großvater".

Ernst Strouhal, "Gespräch mit einem Esel. Vom Lesen mit dem Daumen". € 45,– / 208 Seiten. Brandstätter-Verlag, Wien 2019
Foto: Brandstätter-Verlag

Der Leseesel als Palindrom

Der Esel ist offenkundig stolz auf sein Stammbuch; Goyas Spott zielt auf die Aristokraten, die ihren Rang aus der Folge ihrer Vorfahren ableiten. Dabei sind sie alle gleich, sie stehen in der Chronologie wie in einem Regiment. Goya selbst kannte die Faszination der Genealogie; seinen eigenen Stammbaum hat er recherchiert und aufgezeichnet. Dennoch hätte er gewiss dem Satz des Esels von Kea zugestimmt: "Je weniger Zukunft ihr habt, desto mehr fragt ihr nach eurer Herkunft." Heute trifft der Satz uns selbst: Die Zukunft der Menschengattung steht auf dem Spiel, während die Gespenster des Rassismus erneut ihren unheimlichen Spuk treiben.

Das 39. Blatt der Caprichos erscheint in Strouhals großartig gestaltetem Buch nicht nur im Gespräch mit dem Esel, sondern auch auf vielen Seiten als Bild; so erklärt sich der Untertitel: Vom Lesen mit dem Daumen. Ernst Strouhal, Experte für die Geschichte der Zauberkünste, hat die Tradition der magischen Verwandlungsbücher wiederbelebt. Wer nicht nur zu lesen, sondern auch zu blättern versteht, was der Esel übrigens ausdrücklich bevorzugt, wird – wie im Daumenkino – mit Goyas 39. Capricho konfrontiert, aber auch mit seinem Selbstporträt, das sich in die Druckseiten und in das Gedächtnis der Betrachtenden zu brennen versucht. Daneben wandern Eselsohren über die Seiten; sie zitieren den bekannten Ausdruck von den umgeknickten Blättern, die besonders wichtige Passagen markieren sollen.

Bilder und Worte werden also ineinanderverflochten; der "Leseesel" wird nicht nur als Palindrom vorgestellt, das von vorne wie von hinten gelesen werden kann, sondern auch – wie noch das Wörterbuch der Brüder Grimm weiß – als "Name für ein schmales gepolstertes Gestell, auf welchem man rittlings sitzt, um an einem Pulte zu schreiben oder zu lesen".

Das Buch vom Gespräch mit einem Esel endet mit dem Eselsschrei, der in verschiedenen Sprachen unterschiedlich gehört wird. Wir hören das I-A, dem Robert Bresson in seinem eingangs zitierten Film die Rufe nach Marie, also A-I, gegenübergestellt hat; doch anderswo schreit der Esel offenbar ganz anders. So vielfältig und abwechslungsreich wie die Eselsschreie ist das Buch gelungen, das Lesende und Blätternde immer wieder zur Hand nehmen werden: mit ihren Augen und Daumen. (Thomas Macho, 11.2.2020)