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Mein Highlight in der aktuellen Ausgabe von NOVA – was die Kurzgeschichten betrifft – ist die Erzählung "Don't Be Evil" von Tom Turtschi ("Gotteszone"). Darin sendet Nahostkorrespondent Hendry seinen letzten Bericht aus der chronisch krisenzerfressenen Region, die hier nur noch schlicht "die Zone" genannt wird. Und er übermittelt diesen Bericht auf Papier, denn alles Elektronische ist unzuverlässig geworden, wie er am eigenen Leib erfahren musste.

Während manipulierte Nachrichten der Welt vorgaukeln, dass in der Zone "der Frieden ausgebrochen" sei, erlebt er vor Ort die Hölle: Die Kriegsmaschinerie hat sich verselbstständigt und den Kampf gegen alles Lebendige aufgenommen. Hendry gerät auf einen albtraumhaften Trip, für den die "Terminator"-Reihe und Philip K. Dicks "Second Variety" Pate standen – und schlimmer noch: Die falschen Friedensbotschaften locken immer mehr Rückwanderer in die Falle.

Multiplikation und Metaphysik

Auf den Plätzen meines persönlichen Rankings folgen zwei Geschichten, die unterschiedlicher kaum sein könnten: "Die Speisung" des rumänischen Autors Liviu Surugiu (übersetzt von Herausgeber Michael K. Iwoleit) und Tino Falkes "Chips, Chips". Besagter Chip ist ein insgesamt wenig bemerkenswerter Arbeiter aus einer Textilfabrik, der allerdings eine erstaunliche Leistung vollbracht hat: Er hat eine Klonmaschine gebaut ("Klon" im Sinne einer Kopie wie aus dem Replikator). Damit hat er sich vervielfacht, um endlich seine eher vagen Wünsche zu verwirklichen – dabei allerdings nicht bedacht, dass achtmal derselbe Mensch mit demselben Charakter nicht automatisch mehr auf die Beine bringt als einer. Erinnert von der Machart her ein bisschen an David Gerrolds "Zeitmaschinen gehen anders".

In Surugius Erzählung schicken die NASA und der Vatikan eine Expedition zum Saturn, wo die Cassini-Sonde ein unbekanntes Objekt geortet hat. Mit an Bord ist ein Priester, der schon wegen einer Frau die Kirche verlassen wollte, sich nun aber unversehens in einem Dickicht von Geheimnissen wiederfindet: Was ist das für ein Objekt, das sie da bergen sollen? Wie steht es mit dem Umstand in Zusammenhang, dass Astronomen zwar jede Menge erdähnliche Planeten gefunden haben – aber keiner davon Leben trägt? Und warum musste unbedingt ein Priester an der Mission teilnehmen?

Neuer Zeitgeist

Der Rest der insgesamt elf Geschichten entfällt aufs Mittelfeld (Ausreißer nach unten gibt es dankenswerterweise keine). Und da es ja noch den "Sekundärteil" zu besprechen gibt, gehe ich jetzt nicht auf alle ein. Zu erwähnen wäre allerdings noch, dass sowohl Marcus Hammerschmitt in "Die Befragung" als auch Wolfgang Mörth in "Und immer noch gefällt mir deine Nase" jeweils Pensionisten in den Mittelpunkt stellen (für deutsche Leser: Rentner). In beiden Fällen sind sie Überbleibsel einer vergangenen Ära, die nicht mehr so recht in die totalitären Regimes der neuen Zeit passen.

In Hammerschmitts Zukunft wurden sämtliche Technik-Visionen von Pulp-Autoren der 30er und 40er Jahre verwirklicht – leider aber in Kombination mit der Gesellschaftsform, die Deutschland im fraglichen Zeitraum hatte. Während sein Protagonist einen eher unbedarften Eindruck macht, agieren die zwei Überhundertjährigen in Mörths Geschichte deutlich selbstbestimmter – sehr zum Missfallen des Großen Pflegers an der Spitze des Systems. Beide Szenarien wären ausbaufähiges Romanmaterial.

Was Sache ist

Besagter Sekundär- oder Sachteil umfasst in der aktuellen NOVA zunächst die Würdigung zweier Autoren: Christian Steinbacher stellt den grenzgängerischen – und damit ein bisschen zwischen allen Stühlen sitzenden – Autor Philipp Schönthaler vor, um ihn dem SF-Publikum schmackhaft zu machen. (Anmerkung am Rande: Möglicherweise wäre es für diesen Zweck hilfreich gewesen, etwas mehr auf Schönthalers Plots als auf seine Erzähltechniken einzugehen.) Und Tony Daniel und Michael K. Iwoleit rühmen in ihren Nachrufen noch einmal den großen Gene Wolfe ("Das Buch der Neuen Sonne", "Der fünfte Kopf des Zerberus"), der 2019 leider von uns gegangen ist.

Besonders lobenswert ist aber ein kleiner Schwerpunkt, der auf 14 Seiten freilich nur an der Oberfläche eines Eisbergs von mittlerweile monströser Größe kratzen kann: Thema ist der neue Moralismus, der – stets verbunden mit öffentlichen Empörungsbekundungen auf Social Media – annähernd alle gesellschaftlichen Debatten erfasst hat. Davon ist die Science Fiction, insbesondere die US-amerikanische, nicht ausgenommen geblieben.

Die Anlässe

NOVA-Redakteur Dirk Alt und Herausgeber Michael K. Iwoleit konzentrieren sich in ihren Beiträgen auf die Umbenennung zweier traditioneller SF-Preise in jüngster Vergangenheit, des John W. Campbell Award for Best New Writer und des James Tiptree Jr. Award, die seit 2019 nun aus Gründen der Moral nichtssagende neue Namen tragen.

John W. Campbell hat als Autor und vor allem als Magazin-Herausgeber ab den 1930er Jahren eine Infrastruktur mitaufgebaut, ohne die die Science Fiction höchstwahrscheinlich nicht so leicht auf den Weg zur Massenpopularität gekommen wäre. Zugleich hat er immer wieder Äußerungen von sich gegeben, die nicht nur aus heutiger Sicht als rassistisch und sexistisch angesehen werden können. Ob man ihn deshalb einen fucking fascist nennen muss, wie es 2019 die britische Autorin Jeannette Ng getan hat, als sie den nach ihm benannten Preis in Empfang nahm, sei mal dahingestellt.

James Tiptree Jr. wiederum kennen Rundschau-Leser schon seit vielen Jahren. Es war das Pseudonym der US-amerikanischen Autorin Alice B. Sheldon, die am Übergang von den 60ern zu den 70ern dem Genre ganz neue Impulse verlieh – ein guter Grund, einen Preis nach ihr zu benennen, der Geschlechterrollen hinterfragt. Was eigentlich ganz im Sinne des aktuellen Zeitgeists wäre, doch Sheldon hat 1987 sich und ihren schwerkranken Ehemann erschossen. Das ist nichts Neues und wurde bisher als Selbstmordpakt betrachtet; Tiptree-Biografin Julie Phillips, deren kurzes Essay zum Thema hier ebenfalls abgedruckt ist, glaubt auch nach wie vor daran. Doch inzwischen wurde auch die These vom Pflegemord ins Spiel gebracht. Weder das eine noch das andere lässt sich beweisen – doch hier hat schon der bloße Verdacht dazu gereicht, auch diesen Preis umzubenennen.

Moral als Waffe

Verständlich also, wenn Alt die Mechanismen des öffentlichen moralischen Drucks als "Waffen" bezeichnet, mit denen die Lebenden aus Funktionen und Ämtern, die Toten hingegen aus der Erinnerung gedrängt werden. Kernpunkte seiner Argumentation sind die schleichende Erosion der Unschuldsvermutung (ein tatsächlich erschreckendes Phänomen unserer Tage) und vor allem eine sich immer stärker einigelnde Ausschlusshaltung gegenüber allem, was nicht der eigenen Weltsicht entspricht. Ein rationale und differenzierte Diskussion scheint kaum noch möglich, nicht einmal die Akzeptanz des Umstands, dass – Schockschwerenot! – jemand anderes doch glatt eine andere Meinung haben könnte als man selbst.

Michael K. Iwoleit kann als Rezensent durchaus mal ins Poltern kommen. Wenn er im Untertitel seines Beitrags schon extra einige ungehaltene Anmerkungen ankündigt, zieht man also unwillkürlich den Kopf ein. Überraschenderweise hat er sich dann aber doch sehr zusammengerissen. Beide Beiträge – obwohl mit klarem Standpunkt versehen – sind sachlich gehalten; auf jeden Fall sachlicher als Ngs Auftritt.

Ehrenwert ist auch, dass danach Julie Phillips ein zweites Mal für ein Statement Platz eingeräumt wurde: Darin betont sie in Reaktion auf Alt und Iwoleit, dass sie ihre Stellungnahme zur Preisumbenennung nicht als Anlass dafür sehen möchte, Political Correctness zu kritisieren. (Obwohl: Kritisieren darf man doch hoffentlich alles ...?) Und sie liefert ein schönes Schlusswort: Science Fiction, wenn sie wirklich die Literatur der Zukunft sein will, sollte ein- und nicht ausschließend sein. – Den Satz dürfen sich aber gerne alle ins Stammbuch schreiben.