Der Taschenrechner: Hilft er den Schülerinnen und Schülern, oder behindert er sie darin, tatsächlich rechnen zu können?

Foto: imago/RelaXimages

Michael Eichmair leitet das Projekt "Mathematik macht Freu(n)de" an der Universität Wien. "Eine ausgezeichnete Lehrperson muss zwei Bedingungen erfüllen: die Liebe zum Fach und die Liebe zur Arbeit mit jungen Menschen", sagt er.

Foto: privat

Der langjährige Mathematiklehrer Stefan Götz stellt infrage, ob sein Fach tatsächlich bis zur Matura als Pflichtfach unterrichtet werden sollte.

Foto: Privat

Nur nicht den Mut verlieren, meint Mathematik-Professorin Mechthild Thalhammer: "Etwas auf den ersten Anhieb nicht zu können heißt nicht, dass es mit neuerlichen Anläufen nicht immer besser klappen kann."

Foto: privat

Bei Mathematikschularbeiten habe ich den Taschenrechner zum Schummeln verwendet. Ich habe kleine Zettelchen, auf die ich Formeln und Rechengänge gekritzelt hatte, mit Tixo in den Deckel geklebt. Ansonsten verbinde ich mit dem Taschenrechner vor allem Schweißausbrüche, wenn die Maschine als Ergebnis eine Zahl mit ewig vielen Kommastellen ausspuckte. Dann wusste ich: Ich hab' mich wieder mal verrechnet.

Am Anfang dieser Bildungskolumne also gleich ein Geständnis: Ich bin schlecht in Mathematik. Und zwar so schlecht, dass mir selbst die einfachsten Prozentrechnungen schwerfallen. Könnte ich etwas an meiner Schulzeit ändern, es wäre mein fehlendes Interesse, diese Schwäche auszugleichen.

Mathematik als "Angstfach"

Deshalb widmet sich die Kolumne "Schulsachen" als Erstes dem Taschenrechner als Symbol für den Mathematikunterricht. Wie kann das Fach, das den Ruf hat, ein "Angstfach" zu sein, eines werden, das Kindern und Jugendlichen Spaß macht?

Eine Langzeitstudie aus München mit 3.500 Schülerinnen und Schülern hat gezeigt: Nicht besonders intelligente Kinder, sondern jene, die besonders motiviert waren, erzielten über die Jahre den höchsten Leistungszuwachs.

Was machen also jene Lehrerinnen und Lehrer, die in ihren Klassenzimmern für Motivation sorgen? "Sie ist sehr genau, wir konnten immer Fragen stellen. Wenn wir gesagt haben, das ergibt für uns keinen Sinn, hat sie es kurz und knapp erklärt", erzählt Lola Mae über ihre frühere Rechenlehrerin. Die Zwölfjährige besucht ein privates Gymnasium in Wien, Mathematik ist ihr Lieblingsfach. Mit ihrer aktuellen Lehrerin ist sie nicht mehr so zufrieden. "An der Tafel ist alles vollkommen durcheinander, ich verstehe oft nicht, was sie erklärt."

Formeln herleiten, nicht nur hinschreiben

Auch Emil Schüchner (18) liebt Mathematik. An seiner Lehrerin an einem Wiener Gymnasium schätzt er vor allem, dass sie "nicht einfach Formeln hinschreibt und sagt: So ist das jetzt." Als sie den Kreis einführte, habe die Klasse zuerst gemeinsam die Zahl Pi hergeleitet.

Für Michael Eichmair ist die Lehrperson zentral für den Erfolg oder Misserfolg des Mathematikunterrichts. Der Professor leitet "Mathematik macht Freu(n)de" an der Universität Wien. Die Initiative unterstützt Lehramtsstudierende, Lehrpersonen und Schülerinnen und Schüler – etwa zur Vorbereitung auf die Zentralmatura.

"Er macht das für uns"

"Eine ausgezeichnete Lehrperson muss zwei Bedingungen erfüllen: die Liebe zum Fach und die Liebe zur Arbeit mit jungen Menschen", sagt der Universitätsprofessor. Ein Lehrer und Mitarbeiter Eichmairs habe sich nach einer Spezialfrage eines Schülers einen Nachmittag lang hingesetzt, um eine Aufgabenstellung als Comic zu erzählen. Der Schüler habe daraufhin gesagt: "Kein Lehrer tut sich so viel an für uns wie Sie." Diese Gefühl des "Er macht das für uns!" sei zentral für den Erfolg und die Motivation, sagt Eichmair.

Mathematikunterricht kann auch ganz anders aussehen. Ich zum Beispiel habe nie etwas verstanden, sondern einfach Rechengänge auswendig gelernt. Meinem Lehrer hat das gereicht, ich habe meine gesamte Oberstufenkarriere mit einem Befriedigend bestritten.

Wie alt ist der Kapitän?

Mit dieser Methode dürfte ich nicht alleine sein. In den 1980ern ließ das französische Forschungsinstitut für Mathematikunterricht Schüler Folgendes ausrechnen:

Auf einem Schiff befinden sich 26 Schafe und 10 Ziegen. Wie alt ist der Kapitän?

76 der 97 befragten Kinder rechneten ein Ergebnis aus, die meisten kamen auf 36.

Seither nennt man diese Art des automatischen Rechnens ohne Nachdenken in der Forschung "Kapitänsaufgaben". "Sinnentleerte Mathematik" nennt das Stefan Götz. Er war 16 Jahre lang Mathematiklehrer und unterrichtet jetzt zukünftige Pädagogen an der Universität Wien. Der Fachdidaktiker plädiert dafür, Schülerinnen und Schülern realitätsnahe Aufgaben zu stellen, damit sie auch tatsächlich darüber nachdenken, was sie eigentlich ausrechnen.

Schularbeiten prägen Unterricht

In einer seiner aktuellen Aufgabenstellungen geht es um die Temperaturkurve Wiens in den letzten zwanzig Jahren. Die Schüler können sich anhand der Daten mit dem Klimawandel beschäftigen, Diagramme erstellen und Statistik lernen. "Leider ist der Schulalltag von Schularbeiten geprägt", sagt Götz. Dabei könnte auch eine Gruppenarbeit wie diese einen Leistungsnachweis bringen. Diagramme und Statistiken lesen und verstehen zu können sei zudem Wissen, das sie auch als Erwachsene später im Leben brauchen.

Götz ist sich nicht sicher, ob das für den gesamten Stoff der Mathematik in der Oberstufe gilt. "Wenn ich das Leid sehe, das Mathematik bei vielen auslöst, dann stelle ich das manchmal infrage", sagt der Universitätsprofessor.

Sind acht Jahre genug?

Natürlich sei Mathematik wichtig, um als mündiger Bürger an der Gesellschaft teilnehmen zu können. Aber ob dafür nicht acht Jahre Mathematik reichen würden? "Es ist schwer, das herauszufinden. Man kann schließlich kein Experiment machen, dann müssten die Testpersonen später Mathematik nachholen."

Für Eichmair ist der Mathematikunterricht bis zur Matura essenziell. "Bei einem Haus kann ich nicht beliebig Wände einreißen, wenn ich vorher nicht weiß, welche eine tragende ist." Deloitte hat im Auftrag der Niederländischen Mathematischen Gesellschaft berechnet, dass über 30 Prozent der Volkswirtschaftsleistung von Mathematik abhängen. Das Potenzial ist noch viel größer. "Wir können es uns schlicht nicht leisten, Mathematik abzuschreiben."

Mathematik wie Skifahren lernen

Wie also die Angst nehmen? Mathematikerin Mechthild Thalhammer lehrt an der Universität Innsbruck. Mit dem Projekt "Mathe-Cool!" besucht sie regelmäßig Volksschulen, um die Kinder mit spielerischen Aufgaben für Mathematik zu begeistern. Dabei setzt sie vorwiegend einfache Materialien wie Holz und Papier ein.

Grundsätzlich sei es mit Mathematik wie im Sport, sagt Thalhammer. "Beim Skifahrenlernen ist es für alle offensichtlich, dass man nicht gleich auf der schwarzen Piste beginnt, zwischendurch auch einmal hinfallen wird und es dann trotzdem neuerlich versucht – bei Mathematik ist es nicht anders: Es braucht etwas Übung und Ausdauer, bis man fit für schwierigere Aufgaben ist."

Taschenrechner essenziell

Und der Taschenrechner? Hilft er den Schülerinnen und Schülern, oder behindert er sie darin, tatsächlich rechnen zu können?

Experten sowie Schüler sind sich einig: Wenn sie richtig eingesetzt werden, helfen Technologien im Mathematikunterricht. "Das sture Vor-mich-Hinrechnen ist nicht das, was ich an Mathematik schätze. Viel spannender ist es, die Lösung zu suchen und das Ergebnis zu interpretieren", sagt etwa der Gymnasiast Emil Schüchner.

Das sieht auch Didaktiker Götz so: "Wenn man die Technologie einsetzt, bleibt mehr Zeit zum Denken." Universitätsprofessor Eichmair plädiert dafür, sich vom Taschenrechner nicht die Eigenständigkeit nehmen zu lassen. Das grundsätzliche mathematische Wissen könne die Technologie eben nicht ersetzen. "Manche schmeißen schon bei elementaren Rechnungen die Nerven weg, wenn der Taschenrechner einen Eingabefehler anzeigt." Eventuell spricht er da von mir. (Lisa Kogelnik, 10.2.2020)