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Wirtschaftsfreund im Schutz der Staatsmacht: Emmanuel Macron bei der präsidentiellen Arbeit.

Foto: Fuentes/Reuters

Auf Anhieb fällt es schwer, Vertreter der Marktlogik für Anhänger eines autoritären Staates zu halten. Predigen doch die glühendsten Verfechter des Kapitalismus seit ewigen Zeiten die Logik des "Laisser-faire". Was der Staat aufgrund schwindender Autorität nicht mehr zu leisten vermag, soll der Markt für ihn richten. Doch seltsam: Kaum treten soziale Bewegungen in Erscheinung, die ein keineswegs großes Stück vom Kuchen abhaben wollen – schon machen sich die Verächter des Staats um ihren ehemals schlimmsten Widersacher ernste Sorgen.

Ein Buch der Stunde stammt aus der Feder des französischen Philosophen Grégoire Chamayou (44). In "Die unregierbare Gesellschaft" werden Verehrer von Präsident Emmanuel Macron und andere Liberalisten an die Wurzeln ihres Denkens verwiesen. Untertitel des Werks: "Eine Genealogie des autoritären Liberalismus".

Chamayou, der in Lyon lehrt und bereits über "Die Theorie der Drohne" nachgedacht hat, ist sich sicher: Am Ursprung aller liberalen Erwägungen über einen mächtigen, bei Bedarf sogar gewaltbereiten Staat stehen massive Verunsicherungen. Die Unbotmäßigkeit von Arbeitern veranlasste Großkonzerne seit den 1970er-Jahren, Modelle der Selbstverwaltung zu diskreditieren. Die Theoretiker des Marktes wurmte vor allem eines: die Impertinenz von Lohnabhängigen und deren Gewerkschaften.

Kränkendes Urerlebnis

Der Staat stopfe ohne Unterschied die gefräßigsten Mäuler. Während "ein Zeitalter des Überflusses" allen Beteiligten mit einem "hohen Grad sozialer Sicherheit" schmeichle, würden die Unternehmen auf steigenden Lohnkosten sitzenbleiben. Kränkendes Urerlebnis aller liberalen Denker ist die undankbare Aufmüpfigkeit derer, die die Werte für andere schöpfen.

Chamayous Materialsammlung nimmt sich aus wie ein Gang in die rhetorische Waffenkammer. Ohne Unterlass setzen die Vertreter konservativer Think Tanks Widersachern mit argumentativen Drillbohrern zu. Die Palette reicht von Klassikern der Führungsliteratur (z.B. Ronald Coase) bis hinauf zu Schriften von Friedrich August Hayek oder Samuel P. Huntington.

Gewerkschaften werden infiltriert. Was den Gewinnerwartungen von Aktionären zuwiderläuft, gehört aus der Wirtschaft weggedrängt. Der Charakter von Unternehmen wird verfälscht. In der einschlägigen Literatur tauchen sie lediglich als "Nexus von Verträgen" auf. Sie bilden mehr oder minder feste Gebilde, hervorgerufen durch wirtschaftliche Transkationen. In allen Fällen von Strittigkeit soll hingegen das Motto gelten: Mein Firmenname ist Hase!

Über die Folgewirkungen ihres ökonomisch angeleiteten Handelns brauchen sich gestandene Kapitalisten nicht weiter zu scheren. Die Vorteile ihrer Multinationalität erhalten sich globale Konzerne durch "soft laws". Gemeint sind programmatische Anordnungen, die im Ernstfall auf der internationalen Bühne von niemandem durchgesetzt werden. Nachhaltigkeit erzeugt die Wirtschaft dagegen dadurch, dass sie die Verbraucher für negative Auswirkungen von Konsumentscheidungen selber aufkommen lässt ("Responsibilisierung").

Angst vor dem "Chaos"

Über allen Erwägungen aber steht seit Menschengedenken die liberal-konservative Angst: dass die Demokratie von "Regierungskrisen" erschüttert werde. Indem der Staat als alleiniger Urheber der politischen Willensbildung anzusehen ist, geht alle Souveränität von ihm aus.

Dafür plädierten einst weltbekannte Liberale wie Hayek: Eine liberale "Diktatur" hegt alle Versuche ein, den Staat – etwa durch soziale Forderungen – zu überdehnen und zu schwächen. Zugleich legt sich der autoritäre Liberalismus mit aller Macht für die "Freiheit" ins Zeug. Deren Begrenzung besteht in dem strikten Verbot, die Ordnung sozialer Ungleichheit anzutasten.

Der Wohlfahrtsstaat? Wird, wie die gesamte "Politik", abgeschafft. Ein "starker Staat" reicht für eine "freie Wirtschaft" bei weitem aus. Hayek wusste das, als er Diktator Augusto Pinochet 1977 in Chile besuchte und mit Ratschlägen versorgte, während unterdessen Zehntausende in den Folterkellern starben. Auf diese giftigen Quellen liberaler Staatsräson sollten auch Frankreichs Gelbwesten nicht vergessen. (Ronald Pohl, 10.2.2020)