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Mary McDonalds Sinn Féin konnte bei der Wahl zulegen.

Foto: Reuters / Phil Noble

Enger hätte es kaum ausgehen können. Die drei maßgeblichen Parteien in Irland liegen nach der Wahl vom Samstag Kopf an Kopf. Kurz nach Wahlschluss Samstagnacht veröffentlichte der Sender RTE eine repräsentative Nachwahlbefragung. Demnach kam die bürgerliche Regierungspartei Fine Gael auf 22,4 Prozent, die linksnationale Sinn Féin auf 22,3 und die konservative Fianna Fáil auf 22,2 Prozent. Prognosen der "Irish Times" sahen Fianna Fáil hingegen knapp vor Fine Gael und Sinn Féin. Solch ein Wahlausgang wird auf der Grünen Insel als "dead heat", als totes Rennen, bezeichnet.

Unter den kleineren Parteien schnitt Labour enttäuschend mit vier Prozent ab. Zwar konnten die Grünen, verglichen mit der Wahl von 2016, ihr Ergebnis verdreifachen, erzielten aber laut Hochrechnung nur acht Prozent.

Das amtliche Endergebnis wird auf sich warten lassen. Mit der Auszählung wurde erst am Sonntagmorgen begonnen, und die letzten Resultate werden womöglich erst am Dienstag bekannt. Denn das irische Wahlsystem ist kompliziert. Bei der sogenannten "übertragbaren Einzelstimmgebung" gibt der Wähler Präferenzen: Er setzt eine Eins hinter den Namen des von ihm favorisierten Abgeordneten und kann dann mit weiteren Zahlen eine Rangfolge der anderen Kandidaten im Wahlkreis erstellen. Solch ein System führt zu mehreren Auszählungen und zieht die Ergebnisfindung beträchtlich in die Länge.

Sinn Féin etabliert sich

Als historisch darf aber schon das Abschneiden von Sinn Féin bezeichnet werden. Bei der Wahl 2016 lag sie noch bei 13,8 Prozent der Stimmen. Jetzt hat sie die 20-Prozent-Marke durchbrochen und sich als dritte relevante Partei etablieren können. Seit der Gründung der Republik hatten stets die beiden großen Volksparteien Fianna Fáil und Fine Gael dominiert und einander bei der Regierungsbildung abgelöst. Jetzt ist eine dritte Konkurrentin im Spiel.

Sinn Féin wird von den Wählerinnen und Wählern nicht mehr als eine Ein-Thema-Partei begriffen, der es vornehmlich um die nationale Wiedervereinigung geht. Stattdessen hat sich Sinn Féin mit einem klaren Antiausteritätskurs positioniert und im Wahlkampf mit der Botschaft von Wandel und sozialer Gerechtigkeit gepunktet. Besonders die Krise des Gesundheitssystems und die Mietenexplosion waren Themen, die Sinn Féin erfolgreich besetzen konnte.

Keine Belohnung für Fine Gael

Die Regierungspartei hat sich hingegen verrechnet. Fine Gael wollte durch die vorgezogene Neuwahl die Belohnung einstreichen, die es für seine erfolgreiche Brexit- und Wirtschaftspolitik erwartete. Schließlich hatte man einen Budgetüberschuss erwirtschaftet und steuert für dieses Jahr ein Wachstum von 3,5 Prozent an – ein EU-weiter Spitzenwert. Doch das Wahlvolk sah es als Skandal, dass man im Gesundheitsdienst die längsten Wartelisten Europas hat oder 50 Euro für einen Besuch beim Arzt zahlen soll. Die Wartelisten im sozialen Wohnbau wurden ebenfalls immer länger, und die Zahl obdachloser Familien hat sich in den vergangenen fünf Jahren fast verdreifacht. Kein Wunder also, dass es rund zwei Drittel der Bevölkerung für wichtiger halten, in die öffentlichen Dienste zu investieren, als Steuern zu senken.

Mit dem Aufstieg von Sinn Féin und der gleichzeitigen Schwächung der ehemaligen Volksparteien wird eine Regierungsbildung immer schwieriger. Beim letzten Mal hatte es rund zwei Monate gedauert, bis die Minderheitsregierung unter Fine Gael ein Duldungsabkommen mit Fianna Fáil aushandeln konnte. Diesmal stellt sich für Fianna Fáil und Fine Gael die Gretchenfrage: Wie halten sie es mit Sinn Féin? Bisher haben beide Parteien eine Koalition mit dem ehemaligen Flügel der nordirischen Untergrundorganisation IRA abgelehnt. Die Partei, sagte Fianna-Fáil-Chef Micheál Martin, habe sich "nicht von ihrer blutigen Vergangenheit reingewaschen". Eine weitere Minderheitsregierung mit Duldungsabkommen oder eine große Koalition wären die Alternativen. Nur auf gar keinen Fall, das zeigten alle Umfragen, noch eine Wahl. Man wird sich zusammenraufen müssen. (Jochen Wittmann, 9.2.2020)