Als Anna Gandler die letzten Scheiben ins Visier nimmt, gehen ihr die Ereignisse aus dem Vorjahr durch den Kopf. Damals, bei der Junioren-Weltmeisterschaft 2019, startete sie als Vierte des Sprints mit allen Medaillenchancen in die Verfolgung, doch im Finish versagten der Biathletin die Nerven. Zwei Fehlschüsse, aus der Traum. Ein Jahr später ist sie bei der WM in Lenzerheide mit derselben Situation konfrontiert. Die 19-Jährige ist wieder Vierte nach dem Sprint, tritt mit guten Chancen zum letzten Schießen an und spricht mit sich selbst: "Anna, ruhig bleiben, du kannst den Nuller schießen." Und die Tirolerin kann es tatsächlich. Klack, klack, klack, klack, klack! Die Scheiben fallen der Reihe nach. Kurz darauf ist Anna Gandler Junioren-Weltmeisterin 2020 in der Verfolgung.

Anna Gandler mit der Goldmedaille.
Foto: Harald Deubert

Gandler, die zuvor schon Bronze im Einzel gewonnen hatte, legt beide Medaillen neben ihr Bett. Wenn sie aufwacht, greift sie zuerst nach Gold. Nur um sicher zu sein, dass der Weltmeistertitel kein Hirngespinst war, man weiß ja nie. "Ich kann es kaum glauben", sagt die Nachwuchsathletin mit einigen Tagen Abstand. Die Saison habe mit muskulären Problemen begonnen, vor den Wettkämpfen war Gandler zudem "brutal nervös. Ich zweifelte an mir. Was, wenn ich es nicht schaffe? Was, wenn ich es verhaue?" Der Mentaltrainer habe ihr in dieser Situation geholfen. Schließlich hatte sie rechtzeitig eine gesunde Einstellung zur Weltmeisterschaft gefunden: "Ob mit oder ohne Medaille – ich bin die gleiche Anna wie vorher. Die Welt dreht sich so oder so weiter."

Gandler schwört auf ihre Entourage: "Ich brauche ein gutes Team, um mich wohlzufühlen. Und ich habe ein gutes Team." Ein Teil davon ist Vater Markus. Der ehemalige Langläufer gewann 1998 bei den Olympischen Spielen Silber über die klassischen zehn Kilometer und wurde 1999 mit der österreichischen Staffel in der Ramsau Weltmeister. "Mein Vater ist die ruhigste Person, die ich kenne. Er macht nie Druck, er ist nie böse. Ihm ist wurscht, was dabei rauskommt." Erst nach Beendigung seiner Tätigkeit für den Skiverband konnte sich der Kitzbüheler intensiv seiner Tochter widmen: "Er genießt jetzt das Leben, der Druck ist abgefallen, er hat mehr Zeit. Und vor allem kann er voll hinter mir stehen – ohne ein schlechtes Gewissen gegenüber anderen Sportlern zu haben."

Die Weltmeisterin in der Loipe.
Foto: Harald Deubert

Der Langlauf lag im Hause Gandler auf der Hand: "Bei schönem Wetter sind wir immer in die Loipe gegangen." Aber woher kam die Idee, ein Gewehr mitzuschleppen? "Der Sumi hat mir das Schießen schmackhaft gemacht. So ein Gewehr, das hat nicht jeder, ich war voll stolz." Sumi heißt eigentlich Christoph Sumann, ist mehrfacher Olympia- und WM-Medaillengewinner und obendrein Firmpate. Gandler fand "Biathlon sofort spannend, beim letzten Schießen kann sich alles noch drehen". Schwester Lara teilt die Begeisterung für den Sport, die 16-Jährige ging zur Ausbildung nach Norwegen, also ins Mutterland: "Sie spricht jetzt fließend Norwegisch, ich bin sehr stolz auf sie. Für mich wäre das aber nicht das Richtige, ich hätte Heimweh."

Optimistischer Trainer

Die Sehnsucht nach der Heimat hatte Gandler bereits im Skigymnasium Stams gepackt, und das ist in Tirol ja nicht ganz aus der Welt. "Das Internatsleben war ohnehin nicht mein Ding, in Stams wird dir alles abgenommen. Aber ich bin selbstständig, ich will mir meinen Tag einteilen. So lebe ich jetzt, das fühlt sich besser an." Die Matura ist ein Nahziel: "Man weiß nie, wie es mit dem Sport weitergeht. Ich möchte auf keinen Fall den Kopf vernachlässigen. Das ist auch fürs Schießen total wichtig." Der Weltcup ist ein Fernziel: "Ich bin erst 19 Jahre alt, ich brauche noch Zeit, man muss jetzt nichts überstürzen. Was ich im Leben erreichen will? Ich will im Weltcup starten und vielleicht irgendwann eine olympische oder eine WM-Medaille holen."

Der gesamte Wettbewerb im Video.
Enrico Pasini

Die Ziele sind hochgesteckt, sind sie auch erreichbar? "Ja", sagt Nachwuchs-Cheftrainer Reinhard Gösweiner. In ihrer Altersklasse sei Gandler Weltklasse, in der Loipe und auch am Schießstand: "Sie trifft 85 bis 90 Prozent der Scheiben, das ist beachtlich." Die Tirolerin sei zweifellos eine große Hoffnungsträgerin für den österreichischen Wintersport: "Sie ist zu 100 Prozent fokussiert, sie weiß, was sie will." Gandler blickt nach vorne: "Ich mache mir nichts vor, es wird auch Rückschläge geben. Aber ich gehe meinen Weg." (Philip Bauer, 10.2.2020)