Unberührt von der massiven Verstärkung der türkischen Truppen ist am Wochenende die Offensive der syrischen Armee im Osten der Provinz Idlib weitergegangen: Mit Saraqib nahmen die Assad-Truppen einen strategisch wichtigen Ort ein. In der Stadt, die vor Beginn der jetzigen Kämpfe 110.000 Einwohner hatte, treffen die Autobahnen M4 von Latakia und M5 von Damaskus aufeinander. Russland, das aus der Luft die Schwächen der syrischen Armee ausgleicht – was für die Zivilisten auf dem Boden Bombenterror bedeutet –, unterstützt ganz offensichtlich Baschar al-Assads Plan, auch noch das letzte Stück der M5 bis Aleppo zurückzuerobern.

Türkisch-russische Gespräche in Ankara sind ergebnislos verlaufen, sie sollen jedoch fortgesetzt werden. Der türkische Präsident Tayyip Erdoğan verlangt den Rückzug der Assad-Truppen bis Ende Februar. Dass dieser erfolgt, ist unwahrscheinlich, im Gegenteil, bis dahin werden wohl noch andere strategische Ziele erreicht werden, vielleicht sogar ein Vorrücken bis zur Stadt Idlib. Saraqib ist davon weniger als 20 Kilometer entfernt.

Drohende Eskalation

Die Einnahme Idlibs würde schwere Kämpfe bedeuten. Noch härter einzunehmen wäre jedoch der bergige westliche Teil der Provinz. Aber im Osten könnten die "Beobachtungsposten", die die Türkei errichtet hat, vermehrt zu Enklaven im vom Regime kontrollierten Gebiet werden.

Das türkische Militär hat bereits schwere Verluste zu beklagen: Am Montag wurden erneut fünf türkische Soldaten unter syrischem Beschuss getötet. Vor einer Woche waren bereits sieben Soldaten bei Gefechten ums Leben gekommen. Der Vorfall dürfte die Spannungen zwischen der Türkei und Syrien weiter verschärfen. "Der Angriff wurde mit Gleichem vergolten. Feindlichen Ziele wurden umgehend vernichtet, dadurch wurde das Blut unserer Märtyrer nicht ungesühnt gelassen," so ein türkischer Vertreter. Drei Panzer und zwei Kanonen seien zerstört worden, teilte das türkische Verteidigungsministerium am Montagabend mit. Auch ein syrischer Regierungshubschrauber sei bei dem Vergeltungsangriff getroffen worden. Die Nachrichtenagentur Reuters berichtet von mehreren Dutzend Ziele der syrischen Armee, die von der Türkei angegriffen wurden.

Türkische Militärfahrzeuge in der Nähe der Stadt Idlib. Die Türkei hat am Wochenende ihre Truppenpräsenz in Syrien massiv verstärkt.
Foto: APA / AFP / Omar Haj Kadour

Bei Bombardements von Syriens Verbündetem Russland wurden Aktivisten zufolge zudem mindestens neun Zivilisten getötet, darunter sechs Kinder. Fast neun Jahre nach Beginn des Aufstands in Syrien sind laut Uno-Angaben erneut mehr als 600.000 Menschen auf der Flucht. Sie drängen in den Norden in türkisch kontrolliertes Gebiet und Richtung – geschlossene – türkische Grenze. In der Türkei halten sich bereits 3,6 Millionen Syrer und Syrerinnen auf. Abgesehen davon, dass Terror gegen die Zivilbevölkerung zur Assad’schen Kriegsführung gehört: Die neue Flüchtlingsbewegung ist gewiss auch ein nützlicher Teil des russischen Versuchs, Druck auf die Türkei zu machen, damit sie sich letztlich mit dem Assad-Vormarsch abfindet.

Die Offensive der syrischen Armee und ihrer Unterstützer läuft bereits seit Mai 2019 und war immer wieder von türkisch-russischen Waffenruhe-Arrangements unterbrochen. An sich hatten Ankara und Moskau ja im Herbst 2018 in Sotschi eine Einigung über Idlib erzielt: Beide Seiten beschuldigen nun einander, die Bedingungen nie erfüllt zu haben.

Im türkischen Fall ist das besonders die Zusage, jene Rebellengruppen unter Kontrolle zu bringen, die nicht nur für das Assad-Regime und Russland "Terroristen" sind, sondern auch von der Uno als Terrororganisationen eingestuft werden. Den Türken ist es nicht gelungen, sie zurückzudrängen, im Gegenteil, die Al-Kaida zugerechnete HTS (Hay'at Tahrir al-Sham) ist seitdem auf Kosten der türkisch gestützten Rebellen noch stärker geworden.

Sammelbecken der Rebellen

Mehr als drei Millionen Menschen leben im Raum der Provinz Idlib, viele davon aus anderen Teilen Syriens stammend. Darunter sind geschätzt 50.000 Kämpfer, ebenfalls aus ganz Syrien und auch aus dem Ausland. Idlib wurde zum Sammelbecken von Rebellen, die nach der Rückeroberung anderer Gebiete durch das Regime im Rahmen von meist von Russland vermittelten Deals dorthin abziehen konnten. Am Sonntag meldeten deutsche Medien, dass sich mehr als 60 aus Deutschland in den "Jihad" nach Syrien gezogene Islamisten in Idlib aufhalten sollen. Dabei gibt es auch Rekrutierungs- und Geldsammelaktivitäten durch die HTS via soziale Medien, wie sie auch der "Islamische Staat" betrieben hatte.

Die Türkei hatte laut International Crisis Group mit Stand letzte Woche etwa 12.000 Soldaten in zwölf Stützpunkten in der Provinz Idlib. Wenn die kolportierten Zahlen stimmen, sind seither weitere 5.000 dazugekommen. Zu direkten syrisch-türkischen Kampfhandlungen ist es bereits gekommen.

Die Türkei hat als Druckmittel gegen Russland ihre Partnerschaft mit den USA, die noch eine kleine Militärpräsenz in der Nähe von Deir ez-Zor im Osten Syriens haben. Dort operieren US-Soldaten allerdings weiter mit den syrischen YPG-Kurden, was der Türkei ein Dorn im Auge ist, für die die YPG ein PKK-Ableger ist.

Als sich die Türkei mit Russland und dem Iran 2017 auf das Astana-Format verständigte, um die Syrien-Krise zu diskutieren, war es deshalb wohl auch eine kleine türkische Genugtuung den USA gegenüber. Ob Astana, in dem Assad-Gegner und -Unterstützer an einem Tisch sitzen, nun tot ist, bleibt erst zu sehen. Bisher ist es Präsident Wladimir Putin immer wieder gelungen, die Türkei einzubinden – und für Erdoğan bleibt es entscheidend, auch diplomatisch weiter mitzuspielen. (Gudrun Harrer, 10.2.2020)