Das Jugendstadium des Aals wird als Glasaal bezeichnet.
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Es ist schon erstaunlich: Spätestens seit der Antike beschäftigt sich die Wissenschaft eingehend mit dem Aal, der noch dazu als Speisefisch bekannt und beliebt ist. Und dennoch gibt das schlangenartige Tier, das schon beim großen Aristoteles für einige Missverständnisse sorgte, der Forschung bis heute etliche Rätsel auf, die zu einem gewissen Teil bis heute ungelöst sind.

So hat bis heute niemand je gesehen, wo genau und wie sich der Fisch – vermutlich in der Sargassosee, einem Meer östlich von Florida – fortpflanzt. Umstritten ist auch, wie sich die Tiere auf ihren langen Reisen orientieren. Oder wie sie erkennen, dass es Zeit ist, die letzte Reise zurück in die Sargassosee anzutreten, um sich zu vermehren und danach zu sterben.

Überraschender Bestseller

Die Geschichte der Erkundung des Europäischen Aals ist schon das eine oder andere Mal rekapituliert worden – so etwa auch im ersten Eintrag des 2007 erschienenen "Lexikons des Unwissens" (Untertitel: "Worauf es bisher keine Antwort gibt"). Selten zuvor freilich wurden die Schlüsselepisoden der wissenschaftlichen Erforschung des Aals – inklusive seiner Auftritte in der Weltliteratur mit dem Höhepunkt in Günter Grass’ "Blechtrommel" – so elegant und kenntnisreich erzählt.

Seltsamer Titel, tolles Buch: Patrik Svensson: "Das Evangelium der Aale". Aus dem Schwedischen von Hanna Granz. € 22,70 / 253 Seiten. Hanser, München 2020

Vor allem aber hat noch niemand diese Aal-Geschichten mit solchen über den eigenen Vater verbunden – wie das der Patrik Svensson in seinem Überraschungsbestseller "Das Evangelium der Aale" tut, der im Vorjahr auf Schwedisch erschienen ist und aktuell in 30 Sprachen übersetzt wird. Svensson, der als Kind seinen inzwischen verstorbenen Vater beim Aalfischen begleitete, macht den Fisch dabei in gewisser Weise sogar zur Metapher für unsere menschliche Existenz, für die uns die Wissenschaft auch nur bedingt weiterhelfen kann.

Aristoteles jedenfalls lag in Sachen Aal wissenschaftlich überhaupt komplett daneben. Erstens ging der wichtigste Gelehrte der Antike davon aus, dass Aale keine Fische seien, da ihnen die Schuppen fehlen würden (in Wahrheit sind sie nur sehr klein), sondern vielmehr eine Art von Wurm. Über die Fortpflanzung des Aals hatte er besonders widersinnige Vorstellung: Die Tiere würden aus dem Schlamm im Flussbett geboren werden, da sie geschlechtslos seien.

Freuds erfolglose Massaker

An dieser letzten Behauptung sollte sich mehr als zwei Jahrtausende nach Aristoteles einer der berühmtesten österreichischen Wissenschafter abarbeiten. Im Jahr 1876 reiste der 19-jährige Sigmund Freud nach Triest, um an der dortigen Meeresbiologischen Station herauszufinden, ob männliche Aale – weibliche mit Eierstöcken hatte man bereits gefunden – einen Hoden besitzen. Dafür sezierte er 400 Tiere, doch das Massaker war vergeblich. Die Geschlechtsorgane bilden sich erst bei der letzten Reise der Aale aus.

Diese skurrile Episode der Wissenschaftsgeschichte ist gut erforscht. Doch auch ihr gewinnt Svensson neue Facetten ab, indem er aus Freuds Briefen zitiert, die der damalige Medizinstudent aus Triest seinem Freund Eduard Silberstein schrieb – übrigens auf Spanisch. Dass es darin vor allem um Frauen ging, die der junge Freud "bestias bellas" nennt, kommt nicht ganz überraschend.

Durchbrüche der Aalforschung

Den ersten wirklich großen Durchbruch in der Aalforschung brachten dann die von der dänischen Brauerei Carlsberg finanzierten Expeditionen des Zoologen Johannes Schmidt, der jahrelang den Atlantik nach immer kleineren Aallarven durchsuchte und 1922 in der Sargassosee – dem einzigen Meer, das gänzlich von anderen Meeren umgeben ist – fündig wurde: Damit war klar, dass der Laichplatz der Aale dort liegen muss.

Von hier aus lassen sich die sogenannten Weidenblattlarven mit der Strömung gen Norden treiben, verwandeln sich im Laufe der Reise zu kleinen Glasaalen (die lange für eine eigene Art gehalten worden waren). Schließlich werden sie zum Steig- oder Gelbaal, der die europäischen Flüsse frequentiert, ehe er als Blankaal (mit Eierstöcken bzw. Hoden) wieder in die Sargassosee zurückkehrt. Damit ist der Aal ein sogenannter katadromer Fisch, der im Süßwasser lebt und sich im Salzwasser fortpflanzt, während es sich beim Lachs um einen anadromen Fisch handelt, bei dem es genau umgekehrt ist.

Innovatives Nature Writing

All das wird von Svensson kurzweilig erzählt, immer wieder unterbrochen durch die Erinnerungen an das gemeinsame Aalfischen mit dem Vater. Eingestreut sind dabei auch Reflexionen über das aktuell boomende "Nature Writing" und die Arbeiten von Rachel Carsons, die vor ihrem Öko-Klassiker "Silent Spring" eine vielbeachtete Trilogie über das Leben in den Meeren vorlegte und dem Aal besondere Aufmerksamkeit zukommen ließ.

Von Carson ist es dann nicht weit zur existenziellen Bedrohung, unter der die Aale heute leiden: Seit den 1970er-Jahren ist ihre Zahl in Europa – nicht zuletzt aufgrund der Errichtung von Wasserkraftwerken – um nicht weniger als 98 Prozent zurückgegangen. Gegenmaßnahmen außer Fangverbote sind schwierig: Bis heute ist es niemandem gelungen, Aale in Gefangenschaft zu züchten. (tasch, 15.2.2020).