Tatja Seibt durchlebt als Alice Miller eine Wahnsinnsbiografie – sogar die Textaussetzer bei der Uraufführung erzielten ihre Wirkung.

Foto: Patrick C. Klopf

Die Bühne schweigt in Weiß, wie der Sarg eines Kindes oder, um es hoffnungsvoller zu sagen, wie der Flügel einer Friedenstaube, das Signal zur Beendigung aller Gewalttätigkeit. Zuallererst in der Erziehung. Für eine absolut weiße Pädagogik hatte sich die jüdisch-polnisch-schweizerische Erziehungsforscherin Alice Miller (1923–2010) die letzten vier Jahrzehnte ihres Lebens eingesetzt. Eine schöne Idee, dass Kinder, auf die keinerlei Gewalt ausgeübt wird, niemals Gewalt ausüben werden.

Eine kleine Inkonsequenz ist allerdings, dass der 1963 geborene Sohn von Alice Miller, im Hinblick auf den sie in der Öffentlichkeit lange den Eindruck erweckt hat, dass es ihn gar nicht gibt, sie in ihren letzten Lebensjahren daran erinnern musste, wie sie schweigend geduldet hatte, dass er von seinem Vater geschlagen wurde. Da müsste Joshua Sobol wahrscheinlich noch weitere 80 Lebensjahre absolvieren, dass ihn eine solche Familienkonstellation nicht aus der theatralischen Reserve locken würde.

Es ist zwar nur eine polydramatische Fingerübung, die er jetzt dem Villacher Stadttheater Neue Bühne zur Uraufführung überlassen hat, aber sie hat es in sich. Man weiß gar nicht, ob es an der Kürze der Probenzeit oder nicht doch an der emotionalen Intensität des Textes liegt, dass Tatja Seibt in der tragenden Rolle der Alice Miller im Finale der Premiere immer wieder Aussetzer hatte. Im Text stehen sie nicht, passten aber.

Kreislauf der Aggression

Seibt durchlebt als Alice Miller eine Wahnsinnsbiografie. In prekären Verhältnissen 1923 als Alicija Englard in Polen geboren, durchkreuzt der deutsche Einmarsch das geplante Studium. Als Jüdin mit Eltern und Schwester bereits ins Ghetto gesperrt, kann sie sich eine neue Identität verschaffen, muss sich dafür aber dem zwielichtigen Andrzej Miller und dessen Kumpanen ausliefern.

Mutter und Schwester vermag sie so zu retten, nicht aber den Vater. Als der NS-Terror besiegt ist, gelangt sie in die Schweiz. Während Sohn und Tochter zur Welt kommen, legt sich die nunmehrige Alice Miller mit der Schweizer Zunft der Psychoanalytiker an. Sie wird zur weltbekannten Verfechterin der antiautoritären Erziehung.

Welche inneren Dramen sich auf diesem Lebensweg abgespielt haben, Tatja Seibt vermittelt es mit berührender Verletztheit. Mirko Roggenbock insistiert als Sohn Martin darauf, dass der Kreislauf der Aggression nicht durchbrochen werden kann, solange die Wahrheit verschwiegen wird. Die hohe Emotionalität führt Michael Erian mit seinem Saxofon erlösend in Musik über. Und dass Christine Wipplinger die Intuition für die Inszenierung solcher Zeittexte hat, wird hier bestätigt. (Michael Cerha, 11.2.2020)