Sinn-Féin-Chefin Mary Lou McDonald kann sich feiern lassen: Ihre Partei landete einen Überraschungserfolg.

Foto: APF/Ben Stansall

Nach der Parlamentswahl vom Samstag steht die irische Politik vor einem Neuanfang. Das sensationell starke Abschneiden der linksnationalistischen Sinn Féin (SF, auf Deutsch: "Wir selbst") bedeutete eine Absage nicht nur an die Regierung von Premier Leo Varadkar von der konservativen Fine Gael (FG), sondern auch an die von der EU aufgezwungene Sparpolitik des vergangenen Jahrzehnts. Die Wählerschaft habe "ungeduldig" auf mangelnden Fortschritt im Wohnungsbau und im maroden Gesundheitssystem reagiert, sagte Vizepremier Simon Coveney dem öffentlich-rechtlichen Sender RTE.

Die als politischer Arm der irisch-republikanischen Terrortruppe IRA groß gewordene SF legte gegenüber der Wahl 2016 mehr als zehn Prozentpunkte zu und lag mit 24,5 Prozent vor der bisher größten Oppositionspartei Fianna Fáil (22,2) und der regierenden FG, die um fünf Punkte auf 20,9 Prozent abstürzte.

Sie strebe jetzt mit kleineren Parteien eine "Regierung des Volkes" an, teilte SF-Chefin Mary Lou McDonald mit. Die Zeit, in der sich Fianna Fáil und Fine Gael an der Regierung abwechselten, sei nach knapp einem Jahrhundert "endgültig vorbei".

Gelungene Neuausrichtung

Die Übergabe des Parteivorsitzes vom Altterroristen Gerry Adams an die 50-jährige Dublinerin sollte die Neuaufstellung einer europafeindlichen, als Stalinisten verschrienen Truppe zu einer linken, EU-freundlichen Volkspartei symbolisieren. 2019 musste SF allerdings bei der EU-Wahl und den Kommunalwahlen in der Republik ebenso empfindliche Einbußen hinnehmen wie die nordirische Regionalpartei, angeführt von Michelle O’Neill, bei der britischen Unterhauswahl. In Dublin wurden daraufhin Stimmen laut, die beide Frauen für wenig führungsstark hielten.

Dass Taoiseach (Gälisch für Häuptling) Varadkar (41) und Oppositionsführer Micheál Martin die Vollendung der ersten Brexit-Etappe zum Anlass für die vorgezogene Neuwahl nahmen, entpuppte sich bald als Fehler: Mit der Fokussierung auf die Sozial-, Gesundheits- und Wohnungsbaupolitik konnte SF auch Wähler ansprechen, denen die Verbindung zu den Gräueltaten der IRA noch in Erinnerung sind.

Die Jungen scherten sich ohnehin wenig um die Vergangenheit: Einer Nachwahlbefragung zufolge machten 31 Prozent der unter 24-Jährigen ihr Kreuz beim bisherigen Paria. Hingegen konnten die Grünen (7,1) ebenso wenig von der Proteststimmung profitieren wie die brave Labour-Party (4,4); Letzterer hängt die Koalition mit FG von 2011 bis 2016 nach, als dem Wahlvolk wegen des Finanzcrashs brutale Kürzungen zugemutet wurden.

Wegen des komplizierten Präferenzwahlsystems dauerte die Auszählung in den 39 Wahlkreisen auch am späten Montagnachmittag noch an, zumal Sturm, Schnee- und Hagelschauer das Land in Atem hielten.

Das Ausmaß des politischen Erdbebens stand aber längst fest. Manche Regionen, etwa der Wahlkreis Roscommon-Galway, haben zum ersten Mal seit knapp einem Jahrhundert keinen Vertreter der beiden bisher dominanten Parteien im insgesamt 160-köpfigen Parlament. Nach Vergabe von 60 Prozent der Sitze in der Dáil (Deutsch: Versammlung) verzeichnete SF 36 Sitze, dahinter lagen FF (21) und FG (19) sowie unabhängige Politiker (11). Am Ende dürfte FF die stärkste Fraktion stellen; das liegt unter anderem daran, dass SF lediglich 42 Männer und Frauen ins Rennen geschickt hatte.

An Koalitionen – zuletzt auch an eine Minderheitsregierung mit kuriosem Duldungsmodell durch die größte Oppositionspartei – haben sich die Iren gewöhnt. McDonalds angestrebte Volksfront mit Linkssozialisten, Grünen und Labour wird aber in der neuen Daíl über kaum mehr als ein Drittel der Mandate verfügen.

Einer solch wackeligen Konstruktion dürfte der vom Volk gewählte Präsident Michael Higgins kaum zustimmen, von der Reaktion der Finanzmärkte ganz zu schweigen. Auch die von McDonald ins Spiel gebrachte Abstimmung über eine Wiedervereinigung Irlands bleibt Zukunftsmusik.

Premier Micheál Martin?

Die Regierungsbildung läuft vielmehr auf den langjährigen Oppositionsführer und früheren Außenminister Micheál Martin (59) zu. Der einflussreiche FF-Veteran Éamon Ó Cuív (69) setzte am Wochenende seinen Vorsitzenden unter Druck: Die Partei solle eine Koalition mit SF anstreben. Das sagt nicht nur ein früherer Minister und Parteivize, sondern auch der Enkel des legendären Staatsgründers und langjährigen Premierministers sowie Präsidenten Éamon de Valera – alter irisch-republikanischer Adel sozusagen.

Martin und seine Getreuen sprechen einstweilen von Sondierungsgesprächen, sind also unter dem Eindruck des Wahlergebnisses von der harten Linie gegenüber SF abgerückt. Seine Partei hat sich ohnehin immer als nationalliberal positioniert – in den Regionen bestehen viele Berührungspunkte mit gemäßigten SF-Leuten. (Sebastian Borger aus London, 10.2.2020)