Die Gewerkschaft macht sich für eine 35-Stunden-Woche in der Sozialwirtschaft stark.
Foto: APA/GEORG HOCHMUTH

Die Kollektivvertragsverhandlungen in der Sozialwirtschaft sind in der Nacht auf Dienstag nach 13-stündigen Gesprächen gescheitert. Für heute hat die Gewerkschaft Warnstreiks angekündigt, die in den nächsten Tagen fortgesetzt werden sollen. Dabei sollen die betrieblichen Abläufe gestört werden, ohne dass die Gesundheit der Betroffenen beeinträchtigt wird, meinte Gewerkschafterin Michaela Guglberger.

Stein des Anstoßes: die Forderung der Arbeitnehmer nach einer 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich. Die Arbeitgeber waren hier zwar zu Zugeständnissen bereit, wollten die Arbeitszeitverkürzung aber nur auf betrieblicher Ebene akzeptieren. Was spricht für die die 35-Stunden-Woche und welche gewichtigen Argumente gibt es dagegen? (Regina Bruckner, András Szigetvari, 11.2.2020)

Für:

Kürzer arbeiten bedeutet, dass Familien mehr Zeit miteinander verbringen können, was Eltern vor allem dann wichtig ist, wenn die Kinder noch jung sind. Mehr Freizeit ermögliche eine bessere und vor allem gesündere Work-Life-Balance, sagen Soziologen unisono. Im Idealfall führt eine Senkung der Arbeitszeit auch zu einer Umverteilung: Manche Arbeitslose bekommen eher einen Job, den sie sonst nicht erhalten hätten. Vollzeitbeschäftigte leisten weniger.

Es gibt also viele gute Argumente für eine 35-Stunden-Woche. Doch was sind die gewichtigen Gegenargumente? Das zentrale lautet: Eine Verkürzung der Normalarbeitszeit bei vollem Lohnausgleich mag eine nette Idee sein, wäre aber wirtschaftlich nicht leistbar. Die Lohnkosten der Unternehmer würden steigen, weil sie mehr Beschäftigte bräuchten. Das würde die Wettbewerbsfähigkeit der Firmen treffen. Und wenn der Staat die Mehrkosten abfängt? Dann würden die Steuerzahler draufzahlen, beschweren sich die Kritiker.

Schrittweise Einführung

Aber wie schwerwiegend sind diese Probleme? Aufschluss darüber bietet eine Analyse der schrittweisen Einführung der 35-Stunden-Woche in Frankreich ab dem Jahr 2000. Die Regelung in Frankreich sah vor, dass die Kosten der 35-Stunden-Woche auf Arbeitnehmer, Unternehmen und den Staat aufgeteilt werden. Der Staat senkte Sozialabgaben und reduzierte vorgeschriebene Überstundenentgelte für Konzerne. Die Gewerkschaften waren zurückhaltender bei ihren Lohnforderungen. Den Rest der Kosten trugen die Unternehmen. Was waren die Folgen? Laut einer Analyse des Pariser OFCE-Instituts sind die Lohnkosten der Unternehmen im produzierenden Sektor zwischen 1997 und 2007 gar nicht gestiegen. Die Industrie ist hier relevant, weil es dort den wirklichen internationalen Wettbewerb gibt. Dass Lohnkosten explodieren müssen, ist also eine Mär.

Frankreich hat in dieser Zeit zwar international Marktanteile verloren. Französische Unternehmen haben also weniger Autos und Maschinen im Ausland verkauft. Laut der erwähnten Analyse lag das aber nicht an der 35-Stunden-Woche, sondern an der aggressiven Strategie der Lohnsenkungen in Deutschland. Als Folge der Hartz-IV-Gesetze und der Lohnzurückhaltung der Gewerkschaften sind die Stundenlöhne in der Bundesrepublik ab 2003 sogar gesunken. Als großer Nachbar und Mitbewerber haben das Frankreichs Unternehmen am meisten zu spüren bekommen.

Kosten und Nutzen

Eine Gesamtbetrachtung der Kosten und Nutzen offenbart noch einen Aspekt. Wie erwähnt hat der Staat die Aktion bezuschusst. Laut französischer Statistikbehörde Insee wurden zwischen 300.000 und 350.000 zusätzliche Jobs durch die Arbeitszeitverkürzung geschaffen. Die Arbeitslosenzahlen gingen zurück, wodurch der Staat Geld sparte. Mehr Beschäftigte bedeuten zudem mehr Steuereinnahmen. Berücksichtigt man diesen Aspekt, liegen die Kosten für die Einführung der Maßnahme laut OFCE bei 0,15 Prozent der französischen Wirtschaftsleistung. Ein weiterer Effekt in Frankreich war, dass mehr Frauen Vollzeit arbeiten konnten.

Natürlich hatte die Regelung auch ihre Schattenseiten. Sie ist löchrig, die tatsächlichen Arbeitsstunden gingen weniger stark zurück als avisiert. Der zusätzliche Beschäftigungseffekt war kleiner, als von Proponenten im Vorhinein versprochen, und ist mit der Zeit versiegt. Aber angesichts der Erfahrungen gibt es keinen Grund, das Konzept grundlegend zu verdammen. Im Gegenteil. (András Szigetvari, 11.2.2020)

Wider:

35 Stunden Normalarbeitszeit pro Woche sind genug, sagt die Gewerkschaft. Weniger arbeiten als durchschnittlich 38,2 Stunden, die bei den meisten unselbstständig Beschäftigten die Regel sind, und dennoch nicht weniger verdienen, das klingt verlockend. Tatsächlich gibt es in Österreich Beispiele, die zeigen, dass das geht. Die Onlinemarketing-Agentur eMagnetix in Bad Leonfelden ist etwa höchst zufrieden mit der 2018 eingeführten 30-Stunden-Woche. Was also spricht gegen eine generelle Arbeitszeitverkürzung?

Gar nicht so wenig. Grundsätzlich macht es wenig Sinn, verschiedene Branchen, die finanzstarke Große genauso wie brustschwache Kleine umfassen, über einen Kamm zu scheren. Man nehme etwa den Einzelhandel, mit über 400.000 Beschäftigten einer der großen Arbeitgeber. Die Marktteilnehmer stehen unter enormem Druck. In einer Branche, wo die Umsatzrentabilität bei unter zwei Prozent liegt, wird jede Effizienzschraube gedreht. Ein großer Schritt hin zu 35 Wochenstunden hätte wohl Nebenwirkungen. Von den 1000 kleinen Nahversorger könnten viele die höheren Personalkosten nicht stemmen und müssten zusperren. Kosten die Beschäftigen mehr, steigt auch die Gefahr einer Substitution von Arbeitsplätzen durch digitale Lösungen. In den Supermärkten würden noch schneller Checkout-Kassen das Kassapersonal ersetzen. Auf den Handel bliebe das nicht beschränkt.

Produktivere Arbeitnehmer

Doch zeigen nicht empirische Studien, dass Arbeitnehmer bei geringerem Arbeitsumfang produktiver werden? Schon, aber dieser Produktivitätsgewinn entspräche nicht den höheren Lohnkosten, sagt IHS-Chef Martin Kocher. Bei einer Reduktion von 38,5 auf 35 Stunden müsste die gesamte Wirtschaft um rund zehn Prozent produktiver werden, damit die Wettbewerbsfähigkeit nicht leide. Das ist viel. Vor allem wenn man in Rechnung nimmt, dass etwa die Baubranche in den letzten 25 Jahren (bezogen auf die geleisteten Arbeitsstunden) kaum Produktivitätsgewinne erzielte oder die Tourismusbranche um 7,5 Prozent zulegte.

Vor allem für jene Wirtschaftszweige, die im internationalen Wettbewerb stehen – etwa die Industrie -, würde eine generelle Arbeitszeitverkürzung ins Gewicht fallen. In der Dienstleistungs- oder der Pflegebranche trifft das weniger zu. Bei letzterer gingen die Arbeitgeber in einer der früheren Lohnverhandlungen von Mehrkosten von zehn Prozent aus. Die Pflegekosten würden also steigen. Aber das betrifft alle Branchen. Steigen die Löhne, steigen auch die Preise. Die Menschen können damit weniger für den Konsum ausgeben. Volkswirtschaftlich hat das Auswirkungen, denn zuletzt war der Konsum eine Stütze der Konjunktur.

Ganz generell ist es klüger, die Branchen suchen sich bei Lohnverhandlungen aus, ob Produktivitätswachstum in Lohnerhöhungen oder Arbeitszeitreduktion gehen soll, wie manche das schon tun. Davon abgesehen finden Betriebe Lösungen – ganz ohne Arbeitszeitverkürzung. Das Aviva-Hotel im Mühlviertel hat für seine 63 Mitarbeiter die Viertagewoche eingeführt. Sie kommen auf 40 Wochenstunden und haben drei Tage frei. "Das hat Suchtpotenzial", sagt Geschäftsführer Christian Grünbart. Er habe zufriedenere und produktivere Mitarbeiter. Es wundere ihn sehr, dass nicht mehr Unternehmen dem Beispiel folgen, so Grünbart. Ja, und dann hat er auch ausgerechnet, dass 2000 Kilometer an Anfahrten gespart werden. Pro Monat. (Regina Bruckner, 11.2.2020)