Foto: Memoranda

Damit kommen wir zum genrehistorischen Teil dieser Rundschau – und folgerichtig zu einer Plattform, die sich auf diesen Aspekt spezialisiert hat: Die 2015 gestartete Reihe Memoranda, herausgegeben von Hardy Kettlitz, hat bislang 16 Titel hervorgebracht. Ihr Schwerpunkt liegt auf Sachbüchern zum Thema Science Fiction, unter anderem Autorenbiografien, die unter dem Label "SF Personality" firmieren. Bis Ende des vergangenen Jahres erschien die Reihe beim Golkonda-Verlag, bis die Umschichtung der Verlagskonstruktion Europa/Golkonda/Scorpio einige Veränderungen erzwang.

Kettlitz hat seine Reihe dort nun herausgelöst und führt sie im eigens dafür gegründeten Memoranda-Verlag weiter. Und so nebenbei startete er auch eine Crowdfunding-Kampagne, um das "Science Fiction Jahr" zu retten, das aus dem gleichen Grund nicht mehr bei Golkonda erscheinen konnte. Da hat jemand ein paar turbulente Monate hinter sich! Während sich der Staub noch legt, sieht es aber recht hoffnungsvoll aus: Das "SF-Jahr" läuft weiter, und die Programmvorschau von Memoranda liest sich ambitioniert. Unter anderem wird dort auch – Ende des Jahres oder 2021 – der Nachfolger zu Michael Marraks famosem Erzählband "Quo vadis, Armageddon?" erscheinen.

Als die Sowjetunion in die Jahre kam

Den Startschuss gibt nun ein Band zu einem russischen SF-Autor, der in seiner Heimat ähnlich populär war wie die legendären Brüder Strugatzki oder ein paar Generationen später Sergej Lukianenko. Kir Bulytschow war das Pseudonym des 2003 verstorbenen Igor Moscheiko, eines Moskauer Historikers und Orientalisten, der ab den späten 1960ern SF-Erzählungen veröffentlichte. Biografie und ausführliche Bibliografie finden sich im Anhang von "Der einheitliche Wille des gesamten Sowjetvolkes", das sich aber ganz auf eine Periode in Bulytschows Schaffen konzentriert, die aus politischen Gründen eine besondere war: Gorbatschows Politik von Glasnost und Perestroika hatten um 1990 herum den Weg zur Veröffentlichung auch kritischer und satirischer Werke geebnet, die ein paar Jahr zuvor noch besser in der Schublade blieben.

Die titelgebende Erzählung, eine Kurzgeschichte mit brillanter Grundidee, zeigt das sehr schön: Außerirdische setzen am Ufer der Moskwa eine Kabine ab und verkünden, dass am festgesetzten Stichtag jene Person aus der Kabine treten werde, deren Wiederauferstehung sich "das gesamte Sowjetvolk" in einer gedanklichen Abstimmung am meisten wünscht. Das landesweite Brainstorming, wer denn zum Jesus des Televotings werden soll, erleben wir zum einen aus der Sicht eines Durchschnittsbürgers. Und zum anderen, sehr vergnüglich, indem wir wie eine Fliege an der Wand Sitzungen des Zentralkomitees der KPdSU beiwohnen dürfen. Da verrenken sich die greisen Spitzen der Partei in peinlicher Weise, um nicht Lenin zurückholen zu müssen. Und Bulytschow erweist sich als Meister der feinen Klinge: Es wurde eine Unterbrechung zur Einnahme des Mittagessens und zur Durchführung medizinischer Maßnahmen beschlossen.

Lokale Apokalypse

Der Roman "Der Tod im Stockwerk tiefer", der etwa zwei Drittel des vorliegenden Bands ausmacht, ist ebenfalls in erster Linie ein Zeitdokument. Dem Aufleben der Zivilgesellschaft und erster Bürgerinitiativen in der Perestroika-Ära wird hier ein bemerkenswertes System des langsamen Nichtreagierens gegenübergestellt, das mit all seiner bröckelnden Macht die Missstände zu vertuschen versucht, die es verursacht hat. "Verstehen Sie denn nicht, dass Katastrophen niemand braucht? Die verderben nur die Stimmung."

Im Mittelpunkt der Handlung steht der Auslandskorrespondent Schubin, der in eine Provinzstadt eingeladen wurde, um dort ein paar Vorträge zu halten. Da er sich gegenüber kritischen Fragen offener zeigt, als den örtlichen Machthabern lieb ist, wird ein Anlass konstruiert, um ihn zu verhaften – das wird allerdings bald seine geringste Sorge sein. Die Erzählung lässt sich Zeit damit, Elemente ins Spiel zu bringen, die man – im weitesten Sinne – der Phantastik zuordnen könnte. Dann allerdings kommen diese mit Vehemenz, nämlich in Form einer lokalen Apokalypse, die von der Tschernobyl-Katastrophe beeinflusst sein dürfte. (Es ist aber kein Nuklearunfall.)

Kurz und prägnant

Abgerundet wird der Band durch zwei kurze gleichnishafte Erzählungen mit subversivem Witz. In "Der freie Tyrann" landet ein Raumfahrer auf einem anderen Planeten in einer Nation, die der Form nach ein einziges Gefängnis ist. Der lokale Tyrann hatte nämlich eines Tages den Geistesblitz, dass es billiger kommt, außer den Gefangenen selbst auch die gesamte sie versorgende Infrastruktur "einzusperren" ... und immer so weiter. Bis sich das System schließlich ad absurdum geführt hat und er als Ein-Mann-Insel der Freiheit übrig geblieben ist, umschlossen von einer Gesellschaft, die ihren ganz normalen Alltagsgeschäften nachgeht.

Trotz Humors ins Gruseln kommt man schließlich bei der Lektüre der Geschichte "Der alte Iwanow". Ein anonymer Erzähler rekonstruiert darin für uns den Lebensweg eines Menschen, der stellvertretend für ein System steht, das kurzfristige Erfolge über langfristige Vernunft stellt. Titelfigur Iwanow ist ein graumausiger Angestellter, der allerdings eine Besonderheit hat: Er löst jedes Problem, wenn man ihm nur eine kleine Prämie verspricht. Und er tut wirklich alles, um seine Prämie zu bekommen. Seine Taten werden immer haarsträubender, bis einen schließlich am Ende das nackte Grauen beschleicht ...

Alle hier versammelten Geschichten sind übrigens deutschsprachige Erstveröffentlichungen. "Der einheitliche Wille des gesamten Sowjetvolkes" ist also sowohl eine gute Gelegenheit, einen Autor, von dem man vielleicht noch gar nichts gelesen hat, kennenzulernen, als auch eine willkommene Ergänzung für diejenigen, die ihn bereits kennen. Und keine Angst, dass sie nur aus zeithistorischer Perspektive interessant sein könnten: Bei jeder einzelnen wollte ich wissen, wie's weitergeht – was für mich immer noch das wichtigste Gütesiegel einer Geschichte ist.