Der deutsche EU-Diplomat Martin Selmayr vertritt seit 100 Tagen die Europäische Kommission in Wien.

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Klimawandel, Digitalisierung, Rechtsstaatlichkeit, Erweiterung: Für Martin Selmayr, seit 100 Tagen Vertreter der EU-Kommission in Wien, sind das die zentralen Herausforderungen, die die Europäische Union in nächster Zukunft bewältigen muss. Der mehrjährige Finanzrahmen, also der EU-Haushalt für die Jahre 2021–2027, sei dabei natürlich die große, alles verbindende Klammer, so Selmayr am Dienstag vor Journalisten. Eine Einigung der Mitgliedsstaaten in dieser Frage steht allerdings noch aus.

Wenige Tage vor dem EU-Sondergipfel zum Budget – er soll am 20. Februar in Brüssel stattfinden – kommt nun aber Bewegung in die Debatte. Österreich etwa hat als Nettozahler bisher darauf beharrt, dass das künftige EU-Budget nicht mehr als ein Prozent des Bruttonationaleinkommens (BNE) betragen dürfe. Der Budgetvorschlag der EU-Kommission hingegen sah 1,114 Prozent vor. Diese Marke ist für Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) zwar nach wie vor nicht akzeptabel, doch Kurz beharrt nun nicht mehr auf dem Ein-Prozent-Ziel. Irgendwo zwischen einem und 1,11 Prozent sei der Verhandlungsspielraum, sagte er am Montagabend in einem Interview mit oe24.tv.

Skepsis in Prag

Eine Erfolgsgarantie für den Brüsseler Budgetgipfel ist das freilich noch lange nicht. In Prag etwa stieß EU-Ministerin Karoline Edtstadler (ÖVP) am Dienstag mit der österreichischen Haltung auf erheblichen Widerstand. Tschechien gehört zu den Nettoempfängern in der EU und hat schon allein deshalb andere Vorstellungen vom künftigen Haushalt. "Wir sind uns einig, dass wir uns in manchen Punkten uneinig sind", fasste Edtstadler nach einem Treffen mit der tschechischen EU-Staatssekretärin Milena Hrdinková zusammen. Und Hrdinková zeigte sich mit Blick auf den Gipfel "skeptisch, dass binnen zweier Tage ein Konsens gefunden werden kann."

EU-Kommissionsvertreter Martin Selmayer glaubt dennoch an eine Einigung – wenn schon nicht gleich, dann doch zumindest bis zum Herbst dieses Jahres. Die Positionen würden zwar "noch unterschiedlich klingen", würden sich aber bereits jetzt "in den Nuancen" aneinander annähern. "Zum Glück gibt es Deadlines", so Selmayr. "Bis Ende des Jahres müssen wir uns auf ein gemeinsames Budget für die nächsten sieben Jahre geeinigt haben, denn sonst kommt die EU zu Stillstand."

Kein Automatismus bei Erweiterung

In der Frage der Aufnahme neuer Mitglieder verwies Selmayr auf die Regeln des überarbeiteten Erweiterungsverfahrens, das die Kommission vergangene Woche vorgestellt hatte und das stärker als bisher auf Anreizen und Sanktionen gegenüber den Kandidatenländern beruht. Anders als beim Budget ist es für Selmayr in diesem Fall wichtig, dass es eben keine Deadlines gibt – und dadurch keinen wie auch immer gearteten Automatismus. Dafür stehe eine starke Betonung von Rechtsstaatlichkeit, Stabilität der Institutionen, Demokratie und Pluralismus im Fokus. Nachdem Frankreich im Oktober sein Veto gegen den Start von Beitrittsgesprächen mit Albanien und Nordmazedonien eingelegt hat, tritt die Kommission nun für die Aufnahme von Verhandlungen im Mai ein. Ein Neustart mit neuen Regeln also.

Während sich Befürworter und Gegner der Erweiterung laut der jüngsten Eurobarometer-Umfrage in der EU insgesamt ungefähr die Waage halten, sind in Österreich 59 Prozent der Bürgerinnen und Bürger skeptisch, was die Aufnahme neuer Mitglieder betrifft. "Dass die österreichische Bundesregierung trotzdem Seite an Seite mit der Kommission für die Erweiterung kämpft, zeigt, dass hier das geostrategische Interesse gut verstanden wird", so Selmayr. "Es gibt keine Alternative zu einer klugen, behutsamen und gut vorbereiteten Erweiterungspolitik. Sonst werden sich in der Nachbarschaft der EU andere Mächte tummeln."

Der Mensch im Zentrum

Große Bedeutung für die EU-Politik der nächsten Jahre habe zudem das Thema Digitalisierung und künstliche Intelligenz: "Wir wollen nicht, dass Algorithmen über unser Leben entscheiden", so Selmayr. Die Europäische Kommission werde daher nächste Woche Optionen vorstellen, wie man die Kontrolle über den technologischen Wandel behalten könne, wie Algorithmen geprüft und zertifiziert werden könnten, damit der Mensch im Zentrum der Entwicklung stehe.

In anderen Teilen der Welt sehe man das nicht so: "In China etwa werden große Datenmengen instrumentalisiert, um das Leben der Menschen besser kontrollieren zu können", sagte Selmayr und verwies etwa auf problematische Anwendungsgebiete digitaler Gesichtserkennung. "Wir aber wollen, dass der Mensch sein Leben besser kontrolliert." Für diesen "menschenzentrierten Ansatz" wolle die EU nun einen Rechtsrahmen erarbeiten.

Verhandlungsmasse

Dass es mit diesen Problemen sowie mit Themen wie Migration oder Klimaschutz gleich so viele Fragen sind, derer sich die EU nun annehmen muss, beunruhigt Selmayr übrigens nicht. Eher im Gegenteil. Der erfahrene EU-Diplomat weiß, wie komplexe Verhandlungen zwischen den Mitgliedsstaaten in der Regel ablaufen: "Wenn man gleich über mehrere schwierige Themen reden muss, dann wird die Chance, dass man sich am Ende einigt, größer." (Gerald Schubert, 11.2.2020)