Der Wiener Sprachartist Gerhard Rühm wird 90 Jahre alt.

Foto: Heribert CORN

(Das Foyer eines Festsaals in einer großen deutschsprachigen Stadt. Sprachartist Gerhard Rühm sitzt am Abend des Festaktes zu seinem 90. Geburtstag in einem Fauteuil. Ein aufgeregter Jungreporter hält ihm ein Mikrofon unter die Nase.)

REPORTER: So haben Sie in den 1950ern mit Achleitner, Artmann, Bayer und Wiener Sprachexperimente betrieben. Sodass man Sie heute als Vater der Wiener Gruppe bezeichnen kann ...

RÜHM (leicht ärgerlich): Mutter! Ich bin, wie mittlerweile jedes Kind weiß, die Mutter der Wiener Gruppe!

REPORTER (irritiert): Pardon?

RÜHM: Ernst Jandl hat, wie ich finde, die Familienverhältnisse innerhalb wie außerhalb der Wiener Gruppe in dem Gedicht verwandte äußerst präzise dargestellt. "der vater der wiener gruppe ist h.c artmann / die mutter der wiener gruppe ist gerhard rühm ..."

REPORTER: Ach so. Dann wären Friedrich Achleitner, Konrad Bayer und Oswald Wiener Ihre Kinder gewesen?

RÜHM: Wir waren alle eher wie Brüder zueinander!

REPORTER: Also wie Onkel und Tanten? Weil Sie ja, wie Jandl schreibt, die Mutter waren?

RÜHM: Aber wir waren doch alle halbe Kinder damals.

REPORTER: Also Geschwister? Oder besser: Halbgeschwister?

RÜHM (nach kurzer Überlegung): Eher Wahlverwandte. Verwandte im Geiste.

REPORTER: Und mit Artmann sind Sie dann später zusammengezogen? Haben miteinander Herd und Bett geteilt?

RÜHM (verdutzt): Aber nicht doch! Wie kommen Sie auf diesen völlig abwegigen Gedanken?

REPORTER: Na, Sie, als die Mutter der Wiener Gruppe, brauchten doch einen Ernährer für die gemeinsamen Kinder, stelle ich mir vor ...

RÜHM: Jetzt reicht es mir langsam! Jandl schrieb, wie Sie mit Leichtigkeit nachlesen können, weiter: "die kinder der wiener gruppe sind zahllos / ich bin der onkel".

REPORTER: Wie? Sie sind auch der Onkel gewesen? Mutter zu sein hat Ihnen also nicht gereicht?

RÜHM: Quatsch. Das behauptet doch Ernst Jandl von sich, in seinem Gedicht. Er hätte, dieser Logik zufolge, genauso gut mein Schwager sein können ...

REPORTER: Als H. C. Artmanns Bruder? Somit wäre Friederike Mayröcker, bekanntlich Ernst Jandls Gefährtin, entweder Ihre Schwester oder eine angeheiratete Cousine zweiten Grades ...

RÜHM: Oh, dieser Unverstand! (Bedeckt sein Antlitz mit beiden Händen. Während er Anzeichen der Erschütterung bekundet, fällt langsam der Vorhang.)

(Ronald Pohl, 12.2.2020)