Kommt heute der brave Essenslieferant oder der unzuverlässige? Ein Tintenfisch kalkuliert.
Foto: Pauline Billard

Wie heißt es so schön: "Lieber den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach", also besser eine sichere kleine Belohnung einstreifen als auf eine größere zu warten, die vielleicht gar nicht kommt. Was aber, wenn man mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit prognostizieren kann, dass die Taube schon bald greifbar sein wird?

Dafür braucht es freilich die Gabe der Antizipation, und die ist eine nicht zu unterschätzende kognitive Leistung. Gefunden hat sie ein Forschungsteam nun nicht bei Vögeln oder Säugetieren, die einige wohlbekannte Intelligenzbestien hervorgebracht haben, sondern bei einem Weichtier. Das ist der Tierstamm, dem unter anderem Schnecken und Muscheln angehören – also Träger eines IQs, der sie höchstens in Begleitung von Kräuterbutter in den Club Mensa brächte. Doch das fragliche Tier ist ein Kopffüßer, und die sind nicht nur innerhalb der Molluskenverwandtschaft etwas Besonderes.

Meeresfrüchte im Test

Im konkreten Fall untersuchten vier Forscherinnen unter Leitung Pauline Billards von der Universität Cambridge einen rings um Europa verbreiteten Vertreter der Sepien, den Gewöhnlichen Tintenfisch (Sepia officinalis). Die bis zu einem halben Meter langen Tiere leben als Lauerjäger. Als sogenannte Opportunisten fressen sie alles, was sie mit ihren zehn Fangarmen packen und überwältigen können – ob Krebse, Fische oder andere Kopffüßer.

Das heißt aber nicht, dass sie bei ihren Frutti di mare keine Vorlieben hätten. Um diese herauszufinden, offerierten die Forscherinnen ihren insgesamt 29 Versuchstintenfischen zunächst einmal ein Wahlmenü. Dafür wurden je eine Krabbe und eine Garnele in gleichem Abstand zum Probanden platziert. Und eindeutiger hätte der Testsieger nicht ausfallen können: Über 25 Fütterungsrunden hinweg griff jeder Tintenfisch stets zur Garnele. Damit waren für das eigentliche Experiment Spatz und Taube gefunden.

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Sepien kommen in den verschiedensten Formaten: von Winzlingen wie diesem bis zu Exemplaren von einem halben Meter Länge.
Foto: REUTERS/Michael Fiala

In der Folge untersuchten die Forscherinnen, wie gut sich die kleinen Kopffüßer auf ihre Essenslieferanten einstellen können. In Fütterungsvariante eins servierten sie den Tintenfischen tagsüber Krabben und als Abendessen stets eine Garnele. In Variante zwei wurde das abendliche Highlight einmal serviert, ein andermal nicht, und weder Mensch noch Tintenfisch hätte es prognostizieren können. Sowohl die verlässliche als auch die willkürliche Variante wurden jeweils mehrere Tage hintereinander durchgezogen.

Das schlug sich im Ernährungsplan der Sepien deutlich nieder: Strömten die Garnelen verlässlich jeden Abend nach, stillten die Kopffüßer tagsüber nur den dringendsten Hunger. Sie fingen weniger Krabben, um für ihre Lieblingsspeise noch ein bisschen Platz im Magen zu haben – ein sehr an Menschen erinnerndes Verhalten. Befanden sie sich hingegen in einer Phase mit Variante zwei und konnten sich nicht ganz sicher sein, dass noch etwas Besseres nachkommen würde, fraßen sie sich halt an den Krabben satt.

Wurde das System gewechselt, stellten die Tintenfische ihr Verhalten binnen kürzestmöglicher Zeit um. Sie demonstrierten damit eine Flexibilität, die Sepien bei der Anpassung an wechselnde Umweltbedingungen generell sehr zugutekommt, sagt Billards Kollegin Nicola Clayton. Das Besondere an diesem speziellen Fall war allerdings, dass es sich nicht einfach um ein nachträgliches Reagieren handelte. Vielmehr zeigten die Tintenfische ein Verhalten, das auf einer Kombination aus gemachten Erfahrungen und Kalkulation der wahrscheinlichsten Zukunft beruhte. Möglicherweise liege eine Art von kausalem Verständnis vor, so die Forscherinnen.

Intelligenz mit Ablaufdatum

Warum Kopffüßer so viel intelligenter sind als die durchschnittliche Schnecke oder Muschel, ist noch nicht geklärt. Eine mögliche Antwort lieferten Genom-Analysen, die vor kurzem dänische und US-amerikanische Forscher an entfernten Verwandten der Sepien durchgeführt hatten, dem Riesenkalmar und dem Kraken. Bei beiden fand sich eine erstaunlich hohe Anzahl von Genen aus der Familie der Protocadherine. Diese werden mit den Gehirnfunktionen in Verbindung gebracht und sind vor allem bei Wirbeltieren zu finden, bei den meisten Weichtieren hingegen kaum. Wieder einmal sind die Kopffüßer eine Ausnahmeerscheinung.

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Kraken sind für ihren Trickreichtum bekannt – was auch die Fähigkeit miteinschließt, sich aus Aquarien zu befreien.
Foto: Ronald Wittek/dapd

Wie das damalige Untersuchungsteam betont auch Billards Gruppe in ihrer aktuellen Studie den bemerkenswerten Umstand, dass sich die evolutionären Wege von Kopffüßern und Wirbeltieren schon im Präkambrium voneinander getrennt haben. Diese beiden so unterschiedlichen Gruppen marschieren also seit über einer halben Milliarde Jahre getrennt den Gipfeln tierischer Intelligenz entgegen.

Doch scheint die Intelligenz der Kopffüßer anders geartet zu sein als die der Wirbeltiere. Obwohl sie über eine große Bandbreite an visueller Kommunikation verfügen, hat man bei ihnen bisher keine Anzeichen für ein komplexes Sozialleben gefunden, das sich mit dem intelligenter Säugetiere oder Vögel messen könnte.

Das größte Hindernis auf dem Weg zu Höherem bleibt aber ihre geringe Lebenserwartung. Die meisten Kopffüßer kommen über ein Alter von ein bis zwei Jahren nicht hinaus. Bei vielen Arten, auch den Sepien, folgt der Tod zudem unmittelbar auf den ersten Fortpflanzungsakt. Soziales Lernen ist damit so gut wie ausgeschlossen. Sie bleiben Individualisten, die zwar mit einem hohen Maß an Intelligenz zur Welt kommen, dieses aber auch rasch und ohne nachhaltiges Erbe wieder mit ins Grab nehmen. (Jürgen Doppler, 16. 2. 2020)