Stupendemys geographicus bevölkerte vor über fünf Millionen Jahren die Sümpfe des nördlichen Südamerika. Trotz ihrer Größe hatte diese Schildkröte auch Feinde.
Foto: Jaime Chirinos

Die größten modernen Süßwasserschildkröten sind wohl dem Untergang geweiht: Die Zahl der bis zu zwei Meter langen Jangtse-Riesenweichschildkröten, die ursprünglich in China und Vietnam weit verbreitet waren, lässt sich an einer Hand abzählen. Alle heute erfassten Individuen sind männlich, das letzte bekannte Weibchen starb vor weniger als einem Jahr. Die südamerikanische, weniger bedrohte Arrauschildkröte wird nicht ganz so groß, erreicht aber mit einer Panzerlänge von über einem Meter immer noch beeindruckende Dimensionen.

Giganten der Meere

Will man größere Schildkröten sehen, muss man sich einer im Meer lebenden Spezies zuwenden. Der Panzer der Lederschildkröte kann bis zu 2,5 Meter lang werden, was das Tier sogar ein Stück weit in die Nähe der größten bekannten Schildkrötenarten der Urzeit rückt: Protostega gigas beispielsweise bevölkerte vor etwa 83 Millionen Jahren die Meere und konnte zumindest drei Meter lang werden. Den uneingeschränkten Spitzenplatz besetzt freilich Archelon ischyros:

Der Holotyp von Archelon ischyros im Peabody Museum of Natural History der University of Yale misst der Länge nach 351 Zentimeter.
Foto: Frederic A. Lucas

Das größte bekannte Fossil dieser Gigantin der kreidezeitlichen Ozeane misst vom Kopf bis zur Schwanzspitze 4,6 Meter. Dieses Exemplar ist im Besitz des Naturhistorischen Museum in Wien und trägt den Spitznamen "Brigitta". Das Fossil wurde in den 1970er Jahren in South Dakota (USA) freigelegt.

"Brigitta", das weltweit größte und vollständigste Skelett von Archelon ischyros.
Foto: Dr. Bernd Gross

Ein weiteres Rekordwesen

Mit einer Panzerlänge von über drei Metern lässt sich auch Stupendemys geographicus in diese Größenklasse einreihen. Die Spezies lebte vor fünf bis zehn Millionen Jahren in den Sümpfen Südamerikas. Ihre Überreste wurden erstmals 1972 im Norden Venezuelas freigelegt.

Zu diesem Zeitpunkt war noch unklar, ob es sich um eine Schildkröte mit mariner Lebensweise handelte oder ob sie im Süßwasser zu Hause war. Erst in den 1990er-Jahren konnte diese Frage auf Basis weiterer Funde in der Solimões-Formation in Brasilien beantwortet werden, die auf weitläufige Frischwasserfeuchtgebiete des Miozäns zurückgeht.

Der Paläontologe Rodolfo Sánchez neben dem Panzer eines männlichen Stupendemys-geographicus-Exemplars.
Foto: Jorge Carrillo

Damit war erstmals klar: Stupendemys geographicus ist die größte bisher bekannte Süßwasserschildkröte der Erdgeschichte. Der Rekord wird nun von aktuellen Entdeckungen untermauert: Paläontologen der Universität Zürich (UZH) haben gemeinsam mit Kollegen aus Kolumbien, Venezuela und Brasilien mehrere außergewöhnliche Exemplare der ausgestorbenen Schildkrötenart an neuen Fundorten in Venezuela und Kolumbien geborgen.

Einzigartige Hörner

"Der Panzer einiger unserer Stupendemys-Individuen erreicht annähernd drei Meter", sagt Marcelo Sánchez von der UZH, der Leiter der im Fachjournal "Science Advances" veröffentlichten Studie. Die Schildkröte hatte demnach zu Lebzeiten eine geschätzte Körpermasse von über 1100 Kilogramm – fast das Hundertfache der Masse ihres nächsten lebenden Verwandten, der Großkopf-Schienenschildkröte (Peltocephalus dumerilianus) im Amazonasbecken.

Bei einigen dieser Exemplare stießen die Forscher auf eine überraschende Besonderheit: große Hörner an der Vorderseite der Panzer. Offenbar kamen diese Auswüchse aber nur bei den Männchen vor, was Stupendemys unter den sogenannten Halswenderschildkröten einzigartig macht. "Die zwei unterschiedlichen Panzertypen sprechen eindeutig für einen bisher unbekannten sexuellen Dimorphismus", sagt Sánchez. Wie die Forscher vermuten, dienten die Hörner den Männchen bei Kämpfen als Schutz für ihren massiven Schädel.

Video: Paläontologen legen ein männliches Exemplar von Stupendemys geographicus im Norden Venezuelas frei.
Rio Verde

Riesige Bissspuren

Trotz ihrer enormen Ausmaße dürften die Schildkröten in ihrem Lebensraum von noch deutlich größeren Fressfeinden verfolgt worden sein. In vielen Gebieten fällt das Vorkommen der Art nämlich zeitlich mit Purussaurus zusammen, einem Kaimanverwandten, der mehr als zwölf Meter lang werden konnte. Enorme Bissspuren an Stupendemysfossilien legen eindrucksvolles Zeugnis davon ab, dass selbst ein Schildkrötenpanzer bisweilen nicht vor dem Gefressenwerden schützt.

Die Entdeckung von Kieferfragmenten und anderen aufschlussreichen Skelettteilen erlaubte es den Wissenschaftern, die evolutionären Beziehungen der gepanzerten Riesin innerhalb des Schildkrötenstammbaums neu zu bewerten. "Auf Basis von anatomischen Untersuchungen der Schildkröten wissen wir jetzt, dass einige moderne Arten aus dem Amazonasgebiet die nächsten lebenden Verwandten von Stupendemys sind", sagt Sánchez.

Darüber hinaus deuten die neuen Entdeckungen und die Untersuchung bereits bekannter Fossilien aus Brasilien, Kolumbien und Venezuela auf eine weitaus größere geografische Verbreitung dieser Spezies hin, als bisher angenommen worden war. Das Tier lebte wahrscheinlich im gesamten Norden Südamerikas. (Thomas Bergmayr, 13.2.2020)