Die Landsat-8-Aufnahme vom April 2016 zeigt einen aufgebrochenen Eisring nahe der Nizhneye-Izgolovye-Halbinsel.
Foto: Nasa/Landsat 8

Seit man in den späten 1960er-Jahren erstmals auf sie aufmerksam geworden ist, stellen die seltsamen Eisringe auf dem winterlich zugefrorenen Baikalsee ein ungelöstes Rätsel dar. Mit einem Durchmesser von vier bis sieben Kilometern sind die jedes Jahr an anderen Stellen auftauchenden kreisrunden Strukturen sogar vom Weltraum aus gut zu erkennen. Dem wiederkehrenden Phänomen wurde schon so manche, teilweise recht fantasievolle Ursache zugeschrieben – Stichwort "Ufos" –, doch der tatsächliche Mechanismus dahinter blieb bis vor kurzem unklar. Nun aber haben Forscher erstmals eine vernünftige und plausible Erklärung für die Eisringe gefunden.

Der Baikalsee in Sibirien entstand vor über 25 Millionen Jahren, was ihn zu einem der ältesten Seen der Erde macht. Mit einer maximalen Tiefe von 1.642 Metern ist er auch der tiefste Süßwassersee unseres Planeten. Sein maximales Volumen beträgt 23.615 Kubikkilometer – das ist mehr als alle nordamerikanischen Großen Seen zusammengenommen. Übers Jahr hinweg variieren die Wassertemperaturen vergleichsweise dramatisch: Im Sommer kann die oberste Wasserschicht an einigen Stellen bis zu 16 Grad Celsius warm werden. Von Anfang Jänner bis etwa Mai ist die Oberfläche des Baikalsees dagegen gefroren, und die durchschnittlichen Lufttemperaturen liegen um minus 20 Grad Celsius. Normalerweise wird das Eis dann zwischen 0,5 und zwei Meter dick.

Die Entwicklung des Eisrings nahe der Nizhneye-Izgolovye-Halbinsel im Frühjahr 2016. Die Region dünneren Eises am Ostrand des Ringes wurde auch zur Falle für einen Lieferwagen. Verletzt wurde bei dem Vorfall niemand.
Fotos: Kouraev et al./A. Beketov/Limnology and Oceanography/Nasa

Nicht auf den Baikalsee beschränkt

Das passiert freilich nicht an jenen Stellen, wo sich meist erst ab April die merkwürdigen Eiskreise bilden. Dort dürfte das Eis deutlich dünner sein. Warum das so ist, hat kürzlich ein französisch-russisches Team um Alexei V. Kouraev von der Université de Toulouse und der Universität von Tomsk mit der Unterstützung von Nasa-Wissenschaftern herausgefunden. Um das Phänomen besser zu verstehen, haben die Wissenschafter 2016 und 2017 Felduntersuchungen am See durchgeführt. Dabei verwendeten sie Sensoren, die Temperatur und Salzgehalt des Wassers unter der Eisoberfläche feststellen sollten.

Wie die Forscher im Fachjournal "Limnology and Oceanography" berichten, fanden sie außerdem auf Satellitenaufnahmen, die 50 Jahre zurückreichen, Hinweise auf insgesamt 56 Eisringe. Der Baikalsee ist aber nicht der einzige Ort, wo die Erscheinung auftritt. Auch auf zwei weiteren Seen der Region, dem Teletskoje-See (Russland) und dem Hovsgol-See (Mongolei), wurden Eisringe beobachtet. Obwohl auch diese Seen wie der Baikalsee lang und schmal sind und von steilen Hängen gesäumt werden, gibt es laut Kouraev keinen Grund anzunehmen, dass die Eisringe nur auf Seen mit einer solchen Form vorkommen.

Die Grafik zeigt den Mittelteil des Baikalsees mit einigen bereits früher bekannten (roten) und neu entdeckten (orangen) Eisringen. Das rot strichlierte Rechteck markiert die Region, wo Kouraev und sein Team Sondenmessungen durchgeführt haben.
Illustr.: Kouraev et al./Limnology and Oceanography/Nasa

Wärmere Wasserströmungen

In der Vergangenheit hatten Experten vermutet, dass die Eisringe mit Methan zusammenhängen könnten, das am Grund des Sees austritt, was sich jedoch als Irrtum entpuppt hat. Auch aufsteigendes wärmeres Tiefenwasser wurde zuvor als Ursache erwogen – und tatsächlich war man mit dieser Theorie auf der richtigen Spur: Wie die Messungen der Forscher um Kouraev zeigten, ist das Wasser am Rand der Eiskreise um ein bis zwei Grad Celsius wärmer als in der Mitte des Ringes oder jenseits davon.

"Die Ergebnisse unserer Feldstudien ergaben, dass vor und während der Entstehung der Eisringe warme Wirbel im Wasser auftreten, die unter der Eisdecke im Uhrzeigersinn zirkulieren", sagt Kouraev. "Im Wirbelzentrum schmilzt das Eis kaum, weil die Strömungen dort zu schwach sind. An den Wirbelgrenzen dagegen sind die Strömungen des wärmeren Wassers deutlich stärker, was schließlich an diesen Stellen zu schnellerem Schmelzen des Eises führt."

Dieser 4,4 Kilometer durchmessende Eisring wurde im April 2009 am Südende des Baikalsees aufgenommen.
Foto: NASA Earth Observatory

Einige Rätsel bleiben

Wie genau es zur Entstehung dieser rotierenden Strömungen kommt, ist vorerst noch unbekannt. Die Beobachtungen der Wissenschafter lassen aber vermuten, dass sie im Herbst noch vor der ersten Eisbedeckung aus einem Zusammenspiel von Winden und einströmenden Flüssen resultieren könnten. Auch die Struktur des Seebodens und die Küstenlinie dürften eine Rolle spielen.

Die Ringe sind nicht nur eine kurioses Anomalie, sie stellen auch für jene eine beträchtliche Gefahr dar, die die Eisfläche mit ihren Fahrzeugen überqueren. Da die Eisringe vom Boden aus kaum erkennbar sind, brechen Pkws und Lastwagen an den dünneren Stellen immer wieder ein. Als besonderen Service haben Kouraev und sein Team daher eine Website eingerichtet, auf der sie regelmäßig über neue Ring-Sichtungen berichten. (tberg, 16.2.2020)