Ein Mann versucht über den Grenzzaun zwischen Marokko und Ceuta zu gelangen.

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Dieses Urteil hat so niemand erwartet. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg entschied am Donnerstag, dass die von Spanien in Ceuta und Melilla an der Grenze zu Marokko immer wieder praktizierten Schnellabschiebungen von Menschen nicht gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstoßen.

Damit widerspricht das Gericht einem eigenen Urteil aus dem Jahr 2017. Damals wurde Spanien vorgeworfen, dass eben diese Praxis gegen den Artikel 4 des Protokolls Nr. 4 der Konvention verstoßen würden. Die damalige konservative Regierung unter Ministerpräsident Mariano Rajoy hatte Einspruch eingelegt. Es habe sich nicht um eine "Massenabschiebung" gehandelt, sondern um die "Abweisung an der Grenze". Jetzt stimmt Straßburg dem zu.

Die betroffenen Flüchtlinge hätten die rechtlich korrekten Wege beschreiten können, dies aber nicht gemacht. "Das Gericht befand, dass sich die Kläger selbst in eine rechtswidrige Situation begeben hatten, als sie am 13. August 2014 auf unbefugte Weise versuchten, spanisches Territorium zu betreten, indem sie die Zäune rund um die spanische Enklave Melilla an der nordafrikanischen Küste erklommen hatten", heißt es in dem Urteil, das der Präsident des EGMR, der Grieche Linos-Alexandre Sicilianos, verlas.

"Folge ihres eigenen Verhaltens"

Die sofortige Abschiebung ohne Abschiebeverfahren, ohne Rechtsbeistand und ohne die Möglichkeit, einen Asylantrag zu stellen, sei deshalb "eine Folge ihres eigenen Verhaltens". Nach dem Urteil kann Spanien an der Südgrenze weitermachen wie gehabt. Auch andere Länder mit Außengrenzen könnten ihre Abschiebepraxis verschärfen.

Das Verfahren hat seinen Ursprung in einem Massenansturm auf den Grenzzaun in Melilla 2014. Geklagt hatten zwei Afrikaner mit Unterstützung von Hilfsorganisationen. Sie waren über den dreifachen Grenzzaun geklettert. Kaum am Boden, wurden sie von Grenzpolizisten unsanft in Empfang genommen und durch eine Tür in der Grenzanlage wieder nach Marokko verfrachtet. Wenige Monate später gelangten die beiden erneut nach Spanien. Sie reichten Klage ein. Zwei Jahre später kam es zu dem Urteil, das jetzt aufgehoben wurde.

Unterstützung der Sozialisten

Der EGMR sah damals noch die Rechte der Flüchtlinge verletzt. "Zu keinem Zeitpunkt wurde ihre Identität festgestellt. Sie hatten keine Gelegenheit, ihre persönliche Lage darzustellen oder die Hilfe von Anwälten, Ärzten und Dolmetschern in Anspruch zu nehmen", urteilten die Richter in Straßburg damals. Den beiden Betroffenen wurden jeweils 5000 Euro Entschädigung zugesprochen.

Ministerpräsident Rajoy, der diese Abschiebepraxis infolge der Klage bei einer Reform der Sicherheitsgesetze im Strafrecht festschreiben ließ, legte Widerspruch in Straßburg ein. Das EGMR nahm – was nur selten geschieht – das Thema erneut auf, da es sich um "eine grundsätzliche, schwerwiegende Frage" handle. Auch die Nachfolgeregierung unter dem Sozialisten Pedro Sánchez hielt den Einspruch aufrecht und das, obwohl die Sozialisten in der Opposition sich immer wieder gegen die Blitzabschiebungen ausgesprochen hatten und sogar gegen das Gesetz von 2015 vor das spanische Verfassungsgericht gezogen waren. (Reiner Wandler aus Madrid, 13.2.2020)