"Das autoritäre Erbe das einmal überwunden wrden sollte, wurde lediglich verschoben, bis es schließlich alles durchdrungen hatte." Wencke Mühleisen

Foto: rolf m. aagaard

"Ich kann mich nicht daran erinnern, dass in meiner Kindheit ein einziges Familiengespräch über den Krieg geführt worden wäre", schreibt Wencke Mühleisen in ihren Memoiren. Das gilt wohl für die meisten ihrer Generation, nur dass ihr Weg von der Tochter eines Wehrmachtsangehörigen bis zur Top-Playerin in einem als antiautoritär definierten Kollektiv doch ein besonderer ist.

Als sie beim Ausmisten einen Brief des Vaters findet, in dem er eine Verbindung zwischen seiner und ihrer ideologischen Verblendung andeutet, beginnt sie seine Vorgeschichte aufzudecken und macht deutlich, wie sehr die Revolte ihrer Generation eine Reaktion auf den Nationalsozialismus gewesen war; ihre Utopien ein Versuch, sich einer repressiven, körperfeindlichen, rassistischen Ideologie und Lebensweise zu entledigen.

Die Väter hatten nie gelernt, ihr Inneres nach außen zu tragen, stets wahrten sie die Form, den Nazi-Panzer, was jedoch eine Verarbeitung der Kriegsgeschehnisse verhinderte. Diese Traumata wurden auf Nachkommen übertragen, von denen einige in der Kommune Otto Muehls hofften, sich davon befreien zu können.

Auf den Wegen des Vaters

Im ersten Teil schildert Mühleisen ihre Spurensuche auf den Wegen des Vaters. In Slowenien erfährt sie vom Schicksal der deutschsprachigen Minderheit, aus der er stammt. Von einer Elite mit dem Makel einer slawischen Mutter wurde die Familie nach dem Ende der Monarchie zur geduldeten Minderheit.

Diese gebrochene Identität lässt den jungen Mann umso mehr auf seinem Deutschtum beharren und macht ihn zum Täter, als er bei Deportationen in Slowenien mithilft.

Wencke, die jüngere Schwester und die Eltern. Die Mutter ist Norwegerin. Der Vater hat slowenisch-österreichische Wurzeln.
Foto: privat

Wencke Mühleisen reist an die Orte seines Wirkens, spricht mit entfernten Verwandten, recherchiert in Archiven, besorgt Dokumente und Briefe, um sich zwischen Halbwahrheiten, Andeutungen und Ungesagtem zurechtzufinden.

Im Schweigen kann schließlich alles enthalten sein, auch die Unschuld der Väter. Das erleichtert die Umdeutung der Familiengeschichte in ein immer positiver scheinendes Bild bis zur Selbstwahrnehmung, dass es gewissermaßen in fast jeder Familie Widerstand gegen das Nazi-Regime gegeben habe und dass man vor allem dessen Opfer gewesen sei.

Aufdeckung innerer Prozesse

Mühleisen landet mit 18 Jahren in der AAO-Kommune, und bei der ersten Analyse gelingt ihr sofort der sogenannte Urmord, eine symbolische Tötung des Vaters. Ihr Schauspieltalent verhilft ihr zum Aufstieg in die Elitegruppe um den Anführer Otto Muehl, der sich in der Folge mehr und mehr als Alleinherrscher in feudalem Anstrich versteht. Immerhin bildet – seltsame Koinzidenz – sein Nachname einen Teil ihres Vaternamens Mühleisen.

Gerade in der Gegenüberstellung von autoritärer Vätergeneration und utopischer Gesellschaft gelingt der Autorin im Nachhinein eine Aufdeckung innerer Prozesse, und es scheint, als sei ohne die Analyse ihrer problematischen Vaterbindung eine klare Sicht auf die in der Folge ins Totalitäre driftende Kommune nicht möglich gewesen. Darin liegt das Potenzial dieses Buches, das stilistisch nicht gerade aufregend ist.

Wir erfahren, dass gleichgeschlechtliche Beziehungen tabu waren, dass es keinen Sex außerhalb des Kollektivs geben durfte. Dass es mit der propagierten Demokratie nicht weit her war, dass Machtspiele die Kommunarden genauso in Anspruch nahmen wie Menschen in jener Außenwelt, gegen die man sich wohlweislich abschottete.

Wencke und ihr Vater Ernst, als er sie 1978 am Friedrichshof besuchte.
Foto: privat

Im Laufe der Recherche begreift Mühleisen, dass sie damals von einem "Systemzwang" in den nächsten gerutscht war. Auch musste das soziale Experiment immer mehr Zugeständnisse an jene Ordnung machen, aus deren Ablehnung die Kommune ihre Seinsberechtigung ableitete.

Weil man Geld brauchte, schickte man Mitglieder, die durch jahrelange Selbstanalyse zu begabten Manipulatoren geworden waren, in die Welt der Banken und Börsen. Mit großem finanziellem Erfolg.

Irgendwann lesen sich Mühleisens Rechtfertigungen für ihren Verbleib in der Kommune so, als würde sie die unbewussten Beweggründe der Nazibegeisterung ihres Vaters nachleben. Sie erkennt: "Das autoritäre Erbe, das einmal überwunden werden sollte, wurde lediglich verschoben, bis es schließlich alles durchdrungen hatte."

Die symbolische Tötung des Vaters

Vor allem im Umgang mit den am Friedrichshof geborenen Kindern offenbaren sich die dunklen Seiten der sogenannten "Befreiung". Da die Mutter-Kind-Bindung als Anzeichen von Kleinbürgerlichkeit galt, entschied die Gruppe, ob eine Schwangere das Kind austragen durfte, wie viel Nähe ihr später zum Baby erlaubt war und ob überhaupt.

Mühleisen landete mit 18 in der Kommune. Hier Otto Muehl am Friedrichshof in den 1980er-Jahren.
Foto: Archives Otto Muehl / Philippe Dutartre

Kinder waren Manipulationsmasse im Machtkampf zwischen Frauen. Schließlich wurden Hierarchien sogar in Kindergruppen etabliert, gegenseitiges Anschwärzen war erwünscht, es gab Schläge und Strafen. Gelebter Faschismus also, der aber nie als solcher benannt wurde, da man sich im Widerstand gegen die väterliche Version des Faschismus wähnte.

Für Mühleisen bedeutete die Geburt ihrer Tochter einen Wendepunkt. Der mütterliche Instinkt triumphierte über das von Männern erdachte und exekutierte Kollektiv. So gelang ihr der Ausstieg.

Weitere Traumata

Otto Muehl hatte inzwischen – wie ein mittelalterlicher Herrscher – das ius primae noctis eingeführt. Wegen Missbrauchs von Minderjährigen und Drogenvergehen wurde er schlussendlich angeklagt und zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt. Der Sektenführer verschwand hinter Gittern.

Der Künstler lebte fort und wurde zum Märtyrer. Das widerständige Potenzial des Aktionismus war mittlerweile zum heiligen Gral erhoben worden, dessen Produkte sich gut vermarkten ließen.

Über die Kinder vom Friedrichshof lässt sich im Film Meine keine Familie von Paul-Julien Robert einiges erfahren. In Interviews und Originalaufnahmen von damals wird der Terror der Analysekreise deutlich. Die "Freiheitshalluzinationen" der Erwachsenen, wie Mühleisen einmal treffend bemerkt, hatten letztlich dazu geführt, dem Nachwuchs weitere Traumata einzupflanzen.

Die propagierte Utopie einer Ungeschiedenheit von Kunst und Leben war gescheitert. Menschen ließen sich nicht so einfach als Material gebrauchen. Dem Urheber des Kunstprojekts jedoch wurde im Nachhinein eine Trennung zwischen Werk und Mensch zugestanden. Das ist vielleicht das traurigste Ende dieses Traums. Des Täters Bilder werden heute im hohen fünfstelligen Bereich gehandelt. (Sabine Scholl, 18.2.2020)