Jacob (Ramsey Robertson) und Gretl (Faye Castelow) in Stoppards "Leopoldstadt".

Foto: Marc Brenner

Dieser Tage diskutiert Großbritannien über die Härte, mit der die konservative Brexit-Regierung gegen Immigranten vorgeht. Erst diese Woche wurde mehr als ein Dutzend Männer nach Jamaika abgeschoben. Sie waren als Kinder mit ihren Familien auf die Insel gekommen, von den bekanntermaßen schlampigen Einwanderungsbehörden aber nicht einmal registriert, geschweige denn naturalisiert worden. Als Erwachsene kamen sie Jahrzehnte später mit dem Gesetz in Konflikt, was schon bei einer Verurteilung zu einer einjährigen Gefängnisstrafe zur Abschiebung führt. Frau, Kinder, Job in London, keinerlei Verwandte in der karibischen "Heimat" – alles egal. Hauptsache, die zuständige Ministerin kann sich als Hardlinerin profilieren, analog zum EU-Austrittsvotum, zu dessen Ergebnis die Angst vor übermäßiger Einwanderung erheblich beitrug.

Es geht deshalb ein fast schmerzhafter Seufzer durchs Publikum im Wyndham-Theater, als in der 1955 spielenden Schlussszene von Tom Stoppards neuem Stück Leopoldstadt ein junger Engländer namens Leo Chamberlain das Loblied auf seine Heimat singt: die Freiheit des Individuums; der Widerstand gegen die großdeutsche Kriegsmaschine 1940; nicht zuletzt die Freundlichkeit gegenüber politischen Flüchtlingen. Tatsächlich gelang zehntausenden mitteleuropäischen Juden rechtzeitig die Flucht auf die Insel, viele machten glänzend Karriere. Die Kunsthistoriker Nikolaus Pevsner (europäische Architektur) und Ernst Gombrich (Kunst und Illusion), der legendäre Investmentbanker Siegmund Warburg, die Illustratorin und Schriftstellerin Judith Kerr (Als Hitler das rosa Kaninchen stahl) – viele Erfolgsgeschichten lassen sich erzählen.

Luke Thallon (Leo) and Sebastian Armesto (Nathan) in "Leopoldstadt".
Foto: Marc Brenner

Der hochgeehrte, längst von der Queen zum Ritter geschlagene Dramatiker Stoppard (Rosenkranz und Güldenstern, Arkadien) gehört dazu, Leo Chamberlain ist sein Alter Ego. In Interviews hat der 82-jährige Sir Tom auf sein Alter hingewiesen: Weil er für die Arbeit an einem Stück zuletzt vier Jahre brauchte, könnte Leopoldstadt sein letztes Werk sein. Es ist gewiss sein persönlichstes.

Der Vorhang hebt sich für die Weihnachtsfeier 1899 einer großbürgerlichen assimiliert-jüdischen Familie im zweiten Wiener Bezirk. Eine Vielzahl von Figuren bevölkert die Bühne, witzige Bemerkungen, Scherze über die Beschneidung soeben getaufter Säuglinge schwirren durch die Luft. Der reiche Industrielle Hermann Merz und sein Schwager, der Mathematiker Ludwig Jakobovicz (gespielt von Stoppards Sohn Edmund), disputieren über Theodor Herzls Judenstaat, über das liberale Kaiserreich und dessen schwelenden Antisemitismus. Eines der Kinder schmückt die Spitze des Weihnachtsbaums mit dem Davidstern, wird aber lachend zurechtgewiesen: Ganz so weit ist es dann doch noch nicht mit der Verschmelzung der Kulturen.

Autobiografische Betroffenheit

Wir folgen nun dem weitverzweigten Clan durch die Jahrzehnte, kulminierend in einer beklemmenden Szene 1938, als die Wohnung beschlagnahmt wird und Hermann der Arisierung seiner Firma zustimmen muss. Die Coda mit Leos Auftritt spielt 17 Jahre später, und plötzlich ist die zuvor überwiegend volle, gelegentlich übervolle Bühne fast leer. Drei Jüngere haben überlebt und fragen sich gegenseitig, was aus den anderen geworden sei. Auschwitz. Auschwitz. Unbekannt. Todesmarsch. Selbstmord. Auschwitz. Beklemmendes Schweigen vor dem Schlussapplaus.

Das Programmheft macht kein Hehl aus der unmittelbaren autobiografischen Betroffenheit des Autors. Als Tomáš Straussler 1937 im tschechischen Zlín zur Welt gekommen, gelang der Familie rechtzeitig vor Kriegsausbruch die Flucht nach Singapur. Nach dem Tod des Vaters heiratete seine Mutter einen englischen Offizier, mit dessen Namen Stoppard der Achtjährige in England ankam. Erst viel später sprach der längst berühmte Dramatiker die verschlossene Mutter auf ihr Leben in Zlín an, stellte auch eigene Nachforschungen über seine Herkunft an. So erfuhr Stoppard von der Ermordung beider Großelternpaare und seiner drei Tanten durch die Nazis, begegnete plötzlich Verwandten, die ihm alte Fotoalben zeigten – eine Szene, die abgewandelt im Stück Verwendung findet. Da winkt ein Paar aus einem abfahrenden Zug, und keiner der im Fotoalbum Blätternden weiß, wie sie heißen. Es komme ihr vor "wie ein zweiter Tod", sagt Großmutter Emilia: "Keiner kennt mehr ihre Namen."

Lang liegt die Bühne im Halbdunkel, als wollte Regisseur Patrick Marber die Figuren gnädig im Unklaren lassen über ihr Schicksal, von dem das Publikum längst weiß. Oder symbolisiert der Mangel an Licht unser aller Ungewissheit? "Es kann nicht schlimmer werden", ruft Nellie beschwörend nach der Kristallnacht 1938. Der englische Journalist Percy, der sie heiraten und dadurch mitsamt ihrem Sohn Leo, Stoppards Alter Ego, retten wird, korrigiert: "Es kommt noch schlimmer." (Sebastian Borger aus London, 15.2.2020)