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Rache ist das Ziel, Versöhnung liegt auf dem Weg: Peter Handke.

Foto: Reuters / Christian Hartmann

Es ist Anfang Mai, und seit Tagen hat kein Hundegebell den Erzähler erschreckt, auch hat er keinen Regierungshubschrauber über sein Haus rattern gehört, und sogar das Leeren der Mülltonnen klingt ihm bloß nach Geraschel. Er fühlt sich in seinem Vorort bei Paris so "heimisch" wie lange nicht. Ausgerechnet in dieser friedlichen Stimmung zieht er in Peter Handkes am Montag erscheinendem Buch Das zweite Schwert aber zwecks Rache los. Er will eine Journalistin töten.

Handke, Journalistin, Rache – da schrillen nicht erst seit dem Nobelpreis die Alarmglocken. Laut Datierung ist der Text aber schon vor den Querelen von vergangenem Herbst im April und Mai 2019 entstanden. Die Journalistin hat zudem anderes verbrochen, als Handkes Erzähler nach Serbien zu fragen, nämlich dessen Mutter einst in einem Artikel mit einem gefälschten Foto als Jublerin für die Nazis denunziert. Die Idee dürfte auf Katie Mitchells Inszenierung von Wunschloses Unglück 2014 im Kasino des Wiener Burgtheaters zurückgehen. Die Regisseurin ließ damals in ein Foto der Hitler zujubelnden Menge das Gesicht Maria Handkes retuschieren, was den Autor gleich störte.

Andererseits hat Handke dem Manuskript den Feinschliff gegeben, als der Nobelpreissturm bereits am Tosen war. Hat er vielleicht doch manche Tirade nachgespitzt? Würde sich das Interesse am Buch in dieser Frage erschöpfen, wäre Ärger seinerseits auf die Presse jedenfalls angebracht.

Bekannte Szenerien

Wir wissen also wenig. Nicht einmal, warum er genau jetzt loszieht. Jedenfalls aber hat er es nicht weit. Sein Weg führt den Erzähler in Handkes erstem Buch nach der Obstdiebin (2017) nur eine Tagesreise lang mit Schienenersatzbus und Bahn in die Île de France hinaus. Es ist mit 160 Seiten ein dementsprechend schmales Buch geworden. Noch schmäler wäre es ausgefallen, erfolgte der Aufbruch gleich. Doch zuvor lässt Handke seinen "Rächer", wie er es oft gerne zum Warmwerden tut, noch drei Tage lang durch treuen Lesern wohlbekannte Vorortszenerien streifen.

Was er dabei erlebt? Lädt ihn ein Briefträgerpaar zum Barbecue ein, erinnert ihn der Rauch an biblische Opfer. Setzt er sich zu Ausländern auf eine Treppenstufe, ist es bedeutungsvoll weder die unterste noch oberste. Trinkt er in der Bahnhofsbar, tut er das mit einem armen Verliebten und einem seines einträglichen Bürojobs Überdrüssigen. Nicht zu vergessen die fernen Hügel, wo das junge Grün der Eschen sich zum Himmel "wellt". Es scheint, als wollte uns der Autor unbedingt seine eigene Harmlosigkeit angesichts des Bevorstehenden klar machen: Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn ...

Speed kills. Als der Erzähler nach 60 Seiten – im dunklen Anzug von Dior, mit einem aufs Hemd gestickten Schmetterling und einer Bussardfeder am Hut – endlich loszieht, verdanken wir das auch dem Knarzen eines Astes unter dem Wippen eines Rotkehlchens, das in seinen Ohren wie die Aufforderung "Tu es! Tu es!" klingt. "Sagt mir nichts gegen solche Einbildungen", verwahrt er sich später. Aus ihnen entstünde Glück, nicht aus Vernunft. Glück wächst auch aus Begegnungen: aus dem wenn auch nur kurzen Herstellen von Kontakt, dem einander Anschauen, dem einander Wahrnehmen.

Trotzig und zart

Trotzig und zart zugleich stilisiert Handke so einmal mehr seine Art des menschenfreundlichen Außenseitertums. "Warum hatte ich mich nicht interessiert für die aktuellen Katastrophen, Massenmorde, Attentate?", fragt der Erzähler sich knapp und wendet sich gleich darauf ausführlich den Maikäfern zu. Sollen sich doch andere im Bus von ihrem "Handtelefon" anblinken lassen, während er eine durchs Fenster gewehte Blüte fängt. Verlegt er die "angeblichen Gebrauchsdinge" nicht deshalb immer, weil sie nutzlos und unansehnlich sind? Es sind die schönsten Stellen. Seit Jahrzehnten schreibt Handke als der große Langsame derart gegen die Logik der Newsfeeds an.

Die Stationen dieser Maigeschichte (so der Titelzusatz) hat er als Detektiv des Beiläufigen aber ganz besonders luftig aufs Papier getupft. Wir begegnen einem aus Löwenzahn Schalmeien bastelnden Richter, dem entlarvenden Blick von Kinderaugen, einer Lesenden als "Friedensbild". Handke geht mit seinem Erzähler zurück in dessen Kindheit, als der fast den die Mutter prügelnden Vater erschlug, und setzt uns den Unterschied von Strafe und Rache auseinander. Die Satzgirlanden werden von Beistrichen filetiert, mittendrin streut Handke mit vollen Händen Fragezeichen aus, der Held ist sich selbst so sehr ein Rätsel wie uns. Man beginnt zu zweifeln, ob die Begebenheiten je eine gemeinsame Richtung finden werden.

Die Bibel als Fluchtpunkt

Dass das letztlich gelingt, liegt an der Bibel, die Handkes Romantik diesmal als Fluchtpunkt beispringt. Von denen ist der Bezug auf das Evangelium nach Lukas, das Handke als Verse der Geschichte voranstellt und aus dem sich der Titel des Bandes ableitet, nur der offensichtlichste. In diesen Versen weist die Jünger an, sich ein Schwert zu kaufen. Der namenlose Erzähler schlüpft mit in ihre Rolle der zum Gewaltakt aus Notwehr quasi Genötigten. So changiert der Text zwischen Natursymbolik (alles neu macht der Mai) und religiöser Zeichenhaftigkeit (das Geschehen handelt in den letzten Tagen der Ferien zu Ostern, dem christlichen Fest der Auferstehung und Verwandlung).

Handke spielt locker alle Karten, die er so in seinem Ärmel versteckt hat. Scheint die Geschichte erst eine fast beiläufige Aneinanderreihung, wächst sie sich so zum komplexen Gefüge aus. Und zwischendurch zwinkert Handke uns zu. Sein Held ist nie unsympathisch, denn er ist auch nie mordlüstern. Würde er sonst im von einem ehemaligen Radiostar gelenkten Taxi herumtuckern? Das hält die Rachegeschichte in einer sie konterkarierenden Leichtigkeit und heiteren Balance. Mit dem Dolch in der Tasche kratzt er schließlich bloß Moos von Steinen.

Dass der Weg das Ziel ist, stimmt für Handkes Unterwegsseiende (Obstdiebin, Bildverlust ...) auf besondere Art. Er schreibt rund um sie Bildungsgeschichten. Selten steht am Ende ihres Weges das Gesuchte, und auch der Erzähler kommt verwandelt an: Das "Rachefest" an der Journalistin gerät ihm über der Reise aus dem Sinn. Es gibt so zwar keine Versöhnung, doch auch keinen Hass mehr. Unter denen, die wollen, ist dafür sogar Gemeinschaft möglich. Es ist einer der bedauernswertesten Fälle der Literatur, wie das öffentliche Bild Handkes in den vergangenen Jahren verunglückt ist. (Michael Wurmitzer, 15.2.2020)