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Wer ist heute Theaterpublikum, wie kann das Theater neues Publikum erreichen?

Getty Images / David Shultz

Das Burgtheater und der Art-Social-Space Brunnenpassage in Wien-Ottakring kooperieren für eine Performance zum Thema gesellschaftliche Teilhabe. Beim Heidelberger Stückemarkt wird der mit 6000 Euro dotierte Jugendstücke-Preis von einer Kinderjury vergeben. Das Vorarlberger Landestheater erarbeitet Aischylos' Die Schutzflehenden gemeinsam mit einem Bürger*innenchor. Und das Tanzquartier Wien lässt seine Aufführungen von Personen unterschiedlichster Professionen im eigens herausgegebenen Magazin besprechen. Was haben die vier Beispiele gemein? Es geht um Partizipation.

"Nichts über uns ohne uns", so lautet ein politischer Grundsatz der Repräsentation, der über die Behindertenbewegung der 1970er-Jahre zur Basis jeder Identitätspolitik wurde. Dabei geht es um Sichtbarkeit, Interessen und politische Macht jeweils spezifischer Gruppen. Auch im Theater stellen sich Fragen nach einer Öffnung der Institutionen gegenüber gesellschaftlicher Teilhabe: Wird für das oder mit dem Publikum gearbeitet? Kommt dieses passiv in einen Kunstgenuss, oder beteiligt es sich aktiv am Geschehen? Und wer ist überhaupt dieses Publikum, wer soll es werden?

Nachfrageorientierte Teilhabe

Die Digitalisierung beschleunigt Demokratisierungsprozesse und damit die Beeinflussung und Veränderung von Rezeptionsgewohnheiten. Deshalb setzt die europäische Kulturpolitik auf Audience-Development, also Publikumsentwicklung: Nachhaltige nichthierarchische Beziehungen zwischen Kulturinstitutionen und Publikum sollen dem Rückgang von tradiertem Kunstkonsum entgegentreten, nachfrageorientierte Teilhabemöglichkeiten schaffen und für neue Legitimation innerhalb der Gesellschaft sorgen. Bei der Pressekonferenz des EU-geförderten Projektes "Be Spectactive!" in Brüssel letzte Woche betonte Walter Zampieri, Referatsleiter bei der Europäischen Kommission, die Notwendigkeit, demografische Veränderungen wie Migration und veränderte Interessenlagen sowie soziale Medien in den Strategien zur Gewinnung neuen Publikums zu erörtern.

Auf politischer Ebene klingen diese Maßnahmen defensiv. Proaktiv hingegen wollen die insgesamt 19 Institutionen aus 15 europäischen Ländern, die sich seit 2014 zu "Be Spectactive!" zusammengefunden haben, die Auseinandersetzung mit dem Begriff "active spectatorship" vorantreiben. Wäre erst einmal das Publikum aktiv geworden, dann fehle für eine vitale Demokratie nicht mehr viel – so der Tenor der Konferenz in Brüssel. Initiiert von Luca Ricci, dessen Theaterfestival Kilowatt im italienischen Sansepolcro in Teilen vom Publikum kuratiert wird, etabliert "Be Spectactive!" ähnliche Klubs in den teilnehmenden Institutionen. Seit dieser Spielzeit auch erstmals in Österreich, und zwar im Brut Wien.

Unvoreingenommen Kuratieren

Dramaturgin Eva Wolfesberger koordiniert die über eine Ausschreibung zustande gekommene Gruppe von zwölf Personen. Diese trifft sich dreimal im Monat zu Vorstellungsbesuchen, Diskussionen und Konzeptgesprächen. "Auf institutioneller Ebene partizipativ werden", formuliert sie den Anspruch. Für das im März stattfindende Imagetanz-Festival einigte sich der Klub auf die Einladung von zwei Beiträgen, Einladungen, die das Brut-Team so vielleicht nicht ausgesprochen hätte. "Unvoreingenommenes Kuratieren heißt weniger Einfluss von materiellen oder kulturpolitischen Erwägungen und ist nicht dasselbe wie populistisches Programmieren", begegnet Wolfesberger einem Einwand gegen User-generated Content am Theater.

Aber nicht nur die Institutionen sollen durchlässig werden für Publikumsbeteiligung, auch die Kunst. Deshalb unterstützt "Be Spectactive!" Projekte mit partizipativem Anspruch mittels Residencies und Touring. Beispielsweise arbeitet die österreichische Gruppe Nesterval derzeit in Sansepolcro an Der Kreisky Test, einem immersiven Theaterspiel, das im April in Wien zum Mitmachen einladen wird. Dass Barrierefreiheit in der Kunst nicht nur mit Architektur und Eintrittspreisen, sondern auch mit dem Abbau von Berührungsängsten und der Diversifizierung von Identifikationsmöglichkeiten zu tun hat, scheint Konsens geworden zu sein und spiegelt sich auch abseits von "Be Spectactive!" in konkreten Projekten wider.

So befragt die Gruppe Fux, deren Produktion Was ihr wollt: Der Film 2019 am Schauspielhaus Wien Premiere hatte, derzeit am Theater Oberhausen die Bewohner der Stadt: "Was wollt ihr?" Aus den Antworten wird eine Theaterproduktion generiert, die bis in Kostümdetails hinein auf den Entscheidungen der Versammlungsteilnehmer beruht. "Inmitten der Legitimationskrise parlamentarischer Demokratien ruft man lautstark nach mehr Mitbestimmung, scheut jedoch die damit einhergehenden Konsequenzen", kritisieren die Fux-Leiter Nele Stuhler und Falk Rößler und stellen sich der Aufgabe, das gewünschte Grusical From Horror till Oberhausen zu erarbeiten.

Mitgestalten oder Gratisarbeit?

Eine andere Art der Öffnung von Theater in Richtung Publikum besteht in der Erfindung von neuen Erzählweisen. Zum Beispiel im digitalen Bereich. Das Schauspielhaus lancierte 2017 mit der Seestadt-Saga eine mit Live-Events flankierte Social-Media-Serie, bei der über Facebook mit den "Figuren" interagiert werden konnte. Clara Gallistl, künftig unter Kay Voges am Volkstheater Wien zuständig für Community-Building, erarbeitete 2019 mit Stahlstadt.online ein vergleichbares Projekt und verknüpfte es mit einem Vernetzungsanspruch: "Das Ziel von Community-Building ist nicht der Verkauf von Produkten, sondern die Herstellung eines gemeinschaftlichen sozialen Raumes, in dem Menschen zusammenkommen und gemeinsam gestalterisch tätig sein können."

Kritisch sieht Gallistl vor allem folgende Punkte: Erreichen Teilhabe-Angebote das gewünschte theaterferne Zielpublikum? Oder bauchpinseln sie das ohnehin kunstinteressierte, weiße Bildungsbürgertum? Und: Wann wird Mitgestaltung zu Gratisarbeit?

Das Nachdenken über Partizipation und Mitbestimmung führt jedenfalls zu Fragen nach Machtverhältnissen. Wer spricht für wen? Und wer hat überhaupt Anteil? Das Theater hat den Weckruf jedenfalls gehört und probt jetzt die großen politischen Auseinandersetzungen unserer Zeit. (Theresa Luise Gindlstrasser, 17.2.2020)