Sangay glaubt an eine Lösung der Tibet-Frage – und setzt dabei auf den Dialog mit China.

Foto: Robert Newald

Seit den 1950er-Jahren regiert die Kommunistische Partei (KP) Chinas Tibet. Für die Volksrepublik ist Tibet ein Teil des Landes. Lobsang Sangay sagt, dass Tibet nie Teil Chinas war. Als Präsident der tibetischen Exilregierung (Central Tibetan Administration, CTA) im nordindischen Dharamsala strebt er aber keine Separation von China an, sondern "echte Autonomie" Tibets innerhalb der Verfassung der Volksrepublik. "Ich bin der am schlechtesten bezahlte Präsident der Welt mit dem schwierigsten Portfolio", sagte er vor rund 150 Tibetern bei seinem Wien-Besuch am Wochenende. Mit dem STANDARD besprach er, wie der nächste Dalai Lama gefunden wird – und die Ängste vor dem Coronavirus in Tibet.

STANDARD: Das Coronavirus legt halb China lahm. Ist Tibet betroffen?

Sangay: Bisher gibt es circa 150 Fälle in den tibetischen Regionen. Die meisten Betroffenen sind Chinesen. Nur eine tibetische Familie ist wohl auch betroffen. Die chinesische Regierung lässt alle Feiern zum tibetischen Neujahr am 24. Februar runterfahren und Großveranstaltungen verbieten. Danach kommt dann gleich der 10. März (Jahrestag des tibetischen Aufstands, Anm.), an dem immer alles zugesperrt wird in Tibet. Dieses Jahr haben sie also einen guten Vorwand dafür. Wir sind etwas besorgt, weil die medizinische Versorgung in Tibet schlechter ist als im Rest von China. Wenn sich das Virus dort verbreitet, dann wird das sehr schädlich.

STANDARD: Der Dalai Lama und auch die CTA verbreiten Gebete, die man gegen den Virus rezitieren soll. Ist das die richtige Art für eine moderne Demokratie, damit umzugehen?

Sangay: Das Gebet wird einen natürlich nicht heilen. Der Virus hat etwas mit dem Immunsystem zu tun. Als Buddhist glaubt man, dass der physische Körper mit dem spirituellen Körper verbunden ist. Auch Wissenschaftler sagen, dass wenn der Geist friedlich und ruhig ist, man besser schläft, was positiv für das Immunsystem ist. Wenn man spirituelle Gebete rezitiert, hilft das, den Geist zu beruhigen. Denn der Coronavirus kreiert Angst. Ich urgiere aber auch, dass man sich die Hände waschen und Masken tragen soll.

STANDARD: In den vergangenen Monaten dominierte die Uiguren-Frage. Über Tibet hört man wenig. Warum?

Sangay: Wenn wir in den vergangenen 60 Jahren auf unsere Situation aufmerksam machten, sagten viele, auch in Österreich: Ja, eure Situation ist schlecht, aber ihr seid eine Ausnahme. Menschen können es moralisch rechtfertigen, über eine Ausnahme hinwegzusehen. Jetzt kamen aber die Uiguren, Hongkong und auch Taiwan. Tibet ist keine Ausnahme mehr. Man sieht klar, dass man es mit dem System der KP zu tun hat. Die Unterdrückung in Tibet ist systematisch. Diese Systematik war auch ein Grund für die Verbreitung des Virus.

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STANDARD: Eine Form von Protest in Tibet sind Selbstverbrennungen. Was ist Ihre Position dazu?

Sangay: Wir versuchen, die Leute davon abzubringen. Die erste von bisher 154 Verbrennungen war 2009. Jetzt sind es weniger. Ich denke, die Menschen hören auf unseren Rat. Man muss sie aber auch verstehen. Wenn man friedlich protestiert, wird man in ein Gefängnis 300 Kilometer entfernt vom Heimatort gesperrt, jahrelang, viele sterben dort. Die Familie muss weit reisen, die Kinder werden zurückgelassen. Deshalb denken sich die Tibeter, die sich aus Protest anzünden: Ich sterbe schnell und schütze meine Familie vor dem Elend.

STANDARD: Sie wurden zweimal im Exil gewählt. Worauf bauen Sie Ihre Legitimität in Tibet auf?

Sangay: Der Dalai Lama hat 2011 Staat und Kirche getrennt, er hat alle seine politische Macht abgegeben, weil er ein demokratisches System wollte. So ist meine Position entstanden. Bei den Wahlen können Tibeter innerhalb Tibets nicht wählen. Wir hören aber, dass dort viele Lieder komponiert werden, in denen Menschen meinen Namen singen. Auch in Klöstern wird für mich gebetet. Ich denke, viele Menschen kennen meinen Namen. Daher hat meine Position diese Legitimität.

STANDARD: Wie genau schaut der Prozess der nächsten Reinkarnation des Dalai Lamas aus, der ja nun schon fast 85 Jahre alt ist?

Sangay: Normalerweise gibt es eine Wiedergeburt, die mithilfe einer Delegation gefunden wird. So war bisher der Prozess innerhalb Tibets. Im Exil könnte es nun auf drei Arten passieren. Eben durch Reinkarnation, durch Selektion durch hohe Lamas oder Emanation. Letzteres bezeichnet den Fall, wenn der Lama seinen eigenen Nachfolger zu Lebzeiten bestimmt. Die populärste Form ist die der Wiedergeburt. Selektion wird sehr selten gemacht. Emanation ist eine Option.

STANDARD: Theoretisch könnte der Dalai Lama also seinen Nachfolger schon "emaniert" haben?

Sangay: Das kann nur der Dalai Lama entscheiden. Er hat kürzlich gesagt, er wird schriftliche Anweisungen hinterlassen. Und dieser Brief, so sagte er, wird sehr klar sagen, welcher Lama in einem Selektionskomitee sein würde, oder vielleicht sagt er auch: "Das und das ist meine Emanation."

STANDARD: Wann schreibt er den Brief?

Sangay: Er hat gesagt, dass er das mit 90 entscheiden wird. Im Oktober 2019 haben tibetische Community-Leader beschlossen: Es kann nur der Dalai-Lama über seine Wiedergeburt entscheiden und niemand anderer. Auch der US-Botschafter (für internationale Religionsfreiheit, Anm.) Sam Brownback hat dem zugestimmt. Niemand soll sich einmischen – nicht China, nicht die USA. Die hohen Lamas haben anschließend eine ähnliche Resolution verabschiedet, in der drinsteht: Die spirituelle Autorität liegt allein beim Dalai Lama und nicht bei der atheistischen KP Chinas. Man kann das ja kaum glauben, dass man das überhaupt machen muss.

STANDARD: Aber China wird ja trotzdem einen eigenen Dalai Lama ernennen.

Sangay: Ja, seit 2007 hat die KP bereits fixiert, dass "Tulkus", also Wiedergeburten von wichtigen Lamas, von der KP bestätigt werden müssen. Das ist total lachhaft. Seitdem haben sie circa 1.300 solcher Zertifikate ausgestellt. Es gibt auch schon viel Korruption. Traditionell hat es in Tibet nicht mehr als 500 oder 600 von ihnen gegeben. Nun haben die Chinesen schon 1.300 zertifiziert!

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STANDARD: Sind diese "Tulkus" von Tibetern anerkannt?

Sangay: Die chinesische Regierung hat in Tibet überhaupt keine Glaubwürdigkeit. Das Erste, was sie nach dem Einmarsch Anfang der 50er-Jahre gemacht hat, war die Klöster zu zerstören. Und jetzt will sie den nächsten Dalai Lama aussuchen. Dieser hat einmal gesagt: "Wenn sie es mit meiner Reinkarnation ernst meinen, dann sollen sie zuerst die Wiedergeburt von Mao Zedong finden."

STANDARD: Während Sie für echte Autonomie innerhalb Chinas eintreten, gibt es im Exil auch Stimmen für die echte Unabhängigkeit. Könnte es in Zukunft eine Exilregierung geben, die das fordert?

Sangay: Das ist sehr unwahrscheinlich. Erstens: Schauen Sie sich die Realität an. Welche Regierung auf der Welt würde eine CTA unterstützen, die die Unabhängigkeit von China fordert? Alle sind sich bei der "Ein-China-Politik" einig. Zweitens, der mittlere Weg, sprich unsere Forderung nach Autonomie innerhalb Chinas, ist aus strategischer Sicht brillant. Ich kann frei reisen, die Präsidentin von Taiwan etwa nicht. Warum? China sagt, dass sich Taiwan für die Unabhängigkeit einsetzt.

STANDARD: Die Situation von Tibetern in Europa wird immer schwieriger. Vor Paris wurde kürzlich ein Flüchtlingscamp mit 700 Tibetern aufgelöst. Was kann die CTA machen?

Sangay: Das scheint in Frankreich ein spezifischer Fall gewesen zu sein. Scheinbar ist das dort Praxis, dass man in einem Zelt wohnt, dann eine NGO kommt und mit Papieren und Sozialhilfe unterstützt. Es ist traurig, aber das scheint die Art zu sein, wie das gemacht wird. Tibeter haben diese Herdenmentalität. Wenn es zehn machen, machen es alle.

STANDARD: Auch in Indien sind viele Tibeter arbeitslos. Was machen Sie dagegen?

Sangay: Wenn man in Indien arbeiten will, dann bekommt man Arbeit. Die Frage ist, welche Art von Arbeit. Wir probieren das anzugehen, in dem wir Stipendien vergeben. Wenn man einmal einen Abschluss hat, kriegt man Arbeit.

STANDARD: Einige Tibeter kehren nach Tibet zurück, wo die wirtschaftliche Situation besser wird.

Sangay: Wenn sie nach Hause gehen, nachdem sie ein gutes Training bekommen haben, dann ist das sehr gut. Manche gehen wegen der Familie zurück. Am Ende sind wir Menschen. Wir möchten in der Nähe der Familie sein. Wir möchten in Tibet sein.

STANDARD: Werden Sie wieder nach Tibet reisen können?

Sangay: Bald. Wir glauben immer, dass wir bald wieder nach Tibet können. So kann man die Hoffnung am Leben erhalten. 1988 hätten viele in Europa nicht erwartet, dass man ein Jahr später frei sein würde. Oder noch wenige Monate, bevor die Berliner Mauer fiel, Nelson Mandela frei war und so weiter. In Nordirland haben sich Menschen bekämpft und getötet – und dann gab es das Karfreitagsabkommen. Während meiner Lebenszeit sind schon so viele Dinge passiert. Wir denken immer: Wir sind die Nächsten. (Anna Sawerthal, 16.2.2020)