Die algerische Nationalflagge als Symbol des Zusammenhalts: Seit einem Jahr gehen allwöchentlich Zehntausende in Algier auf die Straße.

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Auch nach 52 Wochen beständiger Mobilisierung gehen die regierungskritischen Massenproteste in Algerien unvermindert weiter. Seit dem Wochenende erhalten sie erneut massiven Zulauf, jährt sich doch die Geburt der Protestbewegung – im Land "Hirak" genannt – zum ersten Mal. Am Sonntag waren allein in der Kleinstadt Kherrata nahe der Oppositionshochburg Béjaïa in der Berberregion Kabylei Zehntausende auf die Straße gegangen und hatten den Forderungen nach einem echten politischen Wandel Nachdruck verliehen. "Ein ziviler Staat, kein militärischer!" und "Ihr müsst alle gehen!", hallte es stundenlang und lauthals durch Kherrata.

Am 16. Februar 2019 kam es hier, in anderen Städten der Kabylei und im Osten Algeriens zu ersten spontanen Demonstrationen gegen die autokratische und korrupte Staatsführung. Eine Woche später griffen die Proteste auf das gesamte Land über und setzten damit eine Dynamik in Gang, die Algerien bis heute in Atem hält.

Rücktritt Bouteflikas

Auslöser dieser ersten politisch motivierten Großdemos seit Jahren war die groteske Präsidentschaftskandidatur des greisen Expräsidenten Abdelaziz Bouteflika, der bei der im April geplanten Wahl für ein fünftes Mandat kandidieren wollte. Kurz vor dem Wahltermin zog das aus einem intransparenten Geflecht aus Militärs, politischen Parteien, der Staatsbürokratie und privaten Wirtschaftseliten bestehende Regime erste Konsequenzen aus der Massenmobilisierung und zwang Bouteflika zum Rücktritt.

Viel hat sich seither getan, doch der beharrlich eingeforderte Wandel blieb aus. Die herrschenden Eliten erwiesen sich als äußerst widerstandsfähig und in der Lage, sich mit einer reichen Palette an oberflächlichen Zugeständnissen und Ablenkungsmanövern Zeit zu erkaufen. Dutzenden hochrangigen Vertrauten Bouteflikas wird seither wegen Korruptionsvorwürfen der Prozess gemacht, doch einflussreiche Teile der alten Garde sitzen weiterhin an den Schalthebeln der Macht. Vor allem der Sicherheitsapparat hat seinen politischen Einfluss stark ausgeweitet und wird seine Privilegien nicht kampflos aufgeben.

Seit Oktober setzt die personell neu aufgestellte Staatsklasse – die inzwischen formell von dem in einem intransparenten Urnengang im Dezember zum neuen Staatschef gewählten Abdelmajid Tebboune angeführt wird – dabei auf eine Mischung aus Zuckerbrot und Peitsche. Während die Staatsführung mit behutsamen Konzessionen und vom Hirak misstrauisch beäugten Reformversprechen versucht, die Bewegung auszubremsen, geht der Sicherheitsapparat weiter mit Repressalien gegen Demonstranten und Oppositionelle vor.

Vor Gericht und in Haft

Fast 1.400 Hirak-Aktivisten müssen sich nach Angaben des der Protestbewegung nahestehenden "Komitees zur Befreiung der Gefangenen" mittlerweile vor Gericht verantworten, mehrere hundert sitzen schon hinter Gittern.

Tebboune versprach derweil eine Verfassungsreform, die politische Freiheiten garantiere, zudem eine Änderung der Wahlgesetze und kurzfristig kaum zu finanzierende sozioökonomische Verbesserungen. Der Staatschef versucht zudem, seine begrenzte Legitimität im Land durch außenpolitische Initiativen zu stärken und mischt sich vermehrt als Mediator in die Libyen-Krise ein.

Noch lässt sich der konsequent friedlich agierende Hirak durch die Repressalien nicht einschüchtern und ist immer noch fähig, in beachtlicher Manier zu mobilisieren. Doch die Bewegung ist immer noch führungslos und nur partiell strukturiert, muss über kurz oder lang aber eine konkretere Alternative zum Status quo anbieten; droht das Regime doch ansonsten mit seiner Strategie des Aussitzens endgültig die Oberhand zu gewinnen.

Erst am Sonntag lancierten oppositionelle Akteure eine neue Initiative, um sämtliche im Hirak vertretenen Strömungen bei einer Konferenz an einen Tisch zu bekommen. Mehrere ähnliche Vorstöße waren seit Mitte 2019 jedoch im Sand verlaufen. Es setzt sich in der Bewegung aber allmählich die Erkenntnis durch, dass Liberale, Linke und Konservative Kompromisse eingehen müssen, wollen sie das Regime wirklich zu nachhaltigen Reformen zwingen. (Philip Sofian Naceur, 18.2.2020)