Osman Kavala 2014 in Brüssel.

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Istanbul – Am Dienstag sind alle 16 Angeklagten im sogenannten Gezi-Prozess freigesprochen worden. Es war zunächst ein sprachloses Erstaunen unter den mehr als hundert Prozessbeobachtern in dem Gerichtstrakt des Hochsicherheitsgefägnisses in Silivri, von denen viele zunächst glaubten, sich verhört zu haben. Dann brach der Jubel los. Leute lagen sich in den Armen, andere weinten vor Freude. Für alle Anwesenden völlig unerwartet verkündete das Gericht nach knapp einem Jahr Verhandlung den Freispruch für alle 16 Angeklagten in allen Anklagepunkten. Osman Kavala, bekannter Intellektueller, Mäzen und Menschenrechtler, der als einziger Angeklagter über zwei Jahre in Untersuchungshaft saß, sollte am Dienstagabend freikommen. Doch so weit war es nicht gekommen, wie türkische Medien am Dienstagabend berichteten: Kavala wurde erneut festgenommen. Der Vorwurf dieses Mal: Beteiligung an dem Putschversuch vom 15. Juli 2016.

Während des gesamten Prozesses war mit einem Freispruch nicht zu rechnen gewesen. Obwohl die Anklage, die den Beschuldigten vorgeworfen hatte, einen Umsturz der Regierung geplant zu haben, ganz und gar konstruiert war, hatte das Gericht an keinem Prozesstag zuvor zu erkennen gegeben, dass es die Vorwürfe der Staatsanwaltschaft für haltlos hielt. Im Gegenteil, immer wieder wurde die Verteidigung gemaßregelt, und immer wieder lehnte das Gericht wegen der "Schwere der Vorwürfe" eine Entlassung Kavalas aus der U-Haft ab. Selbst nachdem der europäische Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg im Dezember die Entlassung Kavalas aus der U-Haft gefordert hatte, lehnte das Gericht es ab, der Forderung nachzukommen.

Sturz als Ziel

Hintergrund des gesamten Prozesses waren die sogenannten Gezi-Proteste im Sommer 2013, als zunächst in Istanbul und dann landesweit hunderttausende Menschen auf die Straßen gingen, um gegen den autoritären und repressiven Regierungsstil des damaligen Ministerpräsidenten und heutigen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan zu protestierten. Aus Sicht der Anklage sollen Osman Kavala, die Architektin Mücella Yapıcı und der Menschenrechtsaktivist Yiğit Aksakoğlu die Anstifter, Drahtzieher und Finanziers der Proteste gewesen sein und dabei das Ziel eines Sturzes der Regierung Erdoğan verfolgt haben. Erschwerte lebenslängliche Haft hatten die Staatsanwälte deshalb gegen die drei Hauptangeklagten gefordert, die anderen Angeklagten, unter ihnen auch der im deutschen Exil lebende Can Dündar, sollten ebenfalls für viele Jahre ins Gefängnis.

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Angehörige der Beschuldigten warten vor dem Gericht in Silivri.
Foto: Reuters / UMIT BEKTAS

Der vorbehaltlose Freispruch für alle Angeklagten am Dienstag sorgte nicht nur im Gericht, sondern überall in der Türkei für eine riesen Überraschung. Nach dem bisherigen Prozessverlauf war die gesamte Opposition überzeugt, dass die Regierung von Präsident Erdoğan insbesondere an den drei Hauptangeklagten ein Exempel statuiert sehen wollte. Die Gezi-Proteste, die im Herbst 2013 nach einem halben Jahr durch brutale Polizeigewalt niedergeschlagen wurden, waren die lautesten und am breitesten gesellschaftlich verankerten Proteste gegen die Regierung Erdoğan. Nach dem Putschversuch gegen Erdoğan im Sommer 2016 war die Repression gegen jede Opposition und oppositionelle Meinung dann noch einmal verschärft worden. Umso überraschender die jetzigen Freisprüche – bis dann die neuen Anschuldigungen gegen Osman Kavala im Zusammenhang mit genau diesem Putschversuch publik wurden. (Jürgen Gottschlich aus Istanbul, 18.2.2020)