Die Anmut in Person: Virginia Woolf, Dichterin, Feministin und, nach Ertragen schwerer Depressionen, Suizidantin.

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Zuletzt unternahm die schwer depressive Virginia Woolf wirklich alles, um nicht gegen ihren Willen doch noch obenauf zu sein. An einem Vorfrühlingstag im März 1941 stopfte sie sich etliche Steine in die Manteltaschen. Es war ihr letzter Versuch, in dem Flüsschen Ouse, unweit ihres Landhauses in Sussex, zu ertrinken. Der Versuch gelang.

Vorausgegangen waren Woolfs Suizid Wochen und Monate der Qual, der unaufhörlichen Selbstzerfleischung. Die kühnste, an Nuancen reichste Bändigerin der gehobenen englischen Sprache versank in Depressionen. Deren Anbranden besitzt etwas von der Unaufhörlichkeit der Brandung: In Michael Kumpfmüllers Schlüsselroman "Ach, Virginia" wird der Leser Zeuge einer zunehmenden Verdunkelung.

Tee ans Bett

Tiefer und tiefer zerrt das Leiden sein Opfer auf den Grund. Virginia ist auf Zimmertemperatur, in wohlkalkulierter Josephsehe, mit Leonard Woolf verheiratet. Ihr Mann, Politiker, Publizist, Hansdampf, strotzt vor Lebensklugheit. Seiner schwer angeschlagenen Gemahlin empfiehlt er treusorgend, Ruhe zu halten. Kein Romanschreiben im Gartenhaus! Dafür bringt er den frisch gebrühten Morgentee an ihr Krankenlager.

Doch ihr beider, uralter Pakt wird vornehmlich von Gewohnheiten gestiftet. Die gehobene Mittelschicht Englands führt, trotz deutscher Bomberflotten, noch immer ein sagenhaft privilegiertes Wohlleben, zwischen Teetassen, die bei Berührung klingeln, Rhododendren, die man pflichtgemäß beschneidet. Und so schlittert man, durch Virginias immer dunkler getönte Brille gesehen, in ein Meer der Agonie.

Nicht die geringste Regung bleibt von der Kranken unbemerkt. Je unscheinbarer, auch untätiger sich Virginia Woolfs (1882–1941) Leben für Unbeteiligte ausnimmt, desto akribischer verzeichnet sie den eigenen, hochnotpeinlichen Verfall. Ein Leben als Krankheit zum Tode. Doch für das Ausleben der Natur ist in der englischen Gesellschaft kein Platz vorgesehen.

Taumel im Kreis

So drehen sich auch Virginias letzte neun Tage unaufhörlich im Kreis. Wie ein Gespenst verliert die 59-Jährige an Stoff, an Kraft, an Lebenssubstanz. "Das Leben besteht aus Flecken, die andere auf einem hinterlassen, denkt sie."

Das klingt nach Woolf – und ist doch echtester Kumpfmüller. Der Berliner Autor hat das nämliche Kunststück schon einmal zuwege gebracht. Er hat Franz Kafkas letzte Lebensmonate einer behutsamen Revision unterzogen (in "Die Herrlichkeit des Lebens", 2011). Kumpfmüller zerkratzte mit wenigen Federstrichen das saure Klischee vom untröstlichen Prager Hungerkünstler, indem er ihm eine verschmitzte Liebenswürdigkeit verlieh. Und ihn, nebstbei, als Liebhaber glänzend rehabilitierte.

Virginia aber, die von ihren Halbbrüdern im Vorschulalter sexuell missbraucht wurde, dichtet den eigenen Körper gegen alle Sensationen des Fleisches ab. Die berühmtesten Episoden aus Woolfs Leben sind ohnedies weltbekannt: ihre Existenz als scharfzüngige Schönheit des Bloomsbury-Kreises, dessen Mitglieder den Künsten huldigten und einer etwas bornierten Frivolität frönten.

Legendär ist Woolfs Liebschaft mit Vita Sackville-West. Berüchtigt ihre hysterische Angst vor den Zumutungen einer, wie man heute sagen würde: hetero-normativen Sexualität. Ungebrochen bleibt Virginia Woolfs Bedeutung als Feministin "avant la lettre". In Romanen wie die "Die Fahrt zum Leuchtturm" (1927) nimmt sie verbrämte Familienaufstellungen vor. Und diese Prosazauberkünstlerin benötigt wenige Seiten, um das Nachdunkeln schwerer, alter Möbel zu beschreiben. Als letzter Gesellschafter steht ihr das Nichts gegenüber. Zu schlechter letzt besteht sie darauf, es bereitwillig in die Arme zu schließen.

"Ach, Virginia" ist nicht bloß der bestürzende Roman einer individuellen Katastrophe. Michael Kumpfmüller diagnostiziert mit liebevoll besorgtem Blick die Zersetzung eines geschundenen Ichs. Durch dieses dunkel getönte Okular fällt alarmierendes Licht: auf uns, auf die vermeintliche Unzerstörbarkeit unserer Gesellschaft. (Ronald Pohl, 19.2.2020)