Der Philosoph Ludwig Marcuse bemerkt in seinem schönen Kommentar zu Epikur, dass es zwei verschiedene Arten von Verzicht gibt. Bei einem Abendessen zum Beispiel, bei dem es sehr guten Wein, aber auch sehr gute philosophische Gespräche gibt, könnte ein Gast sich entscheiden, nur wenig vom Wein zu sich zu nehmen, um die Pointen der Konversation nicht zu verpassen.

Ein anderer Gast könnte verzichten, weil er irgendwo gelernt hat, dass der Genuss von Alkohol sündhaft sei. "Beide Abstinenzler, der eine im Dienst eines Glücks, der andere im Dienst eines Aberglaubens, ähneln einander – wenn man nichts als das ungefüllte Glas vor ihnen betrachtet", schreibt Marcuse. Doch "der eine Verzicht ist der Todfeind des andern Verzichts. Epikur ist groß gewesen im Verzichten – und nie ein Verehrer des Verzichts. Er verzichtete nicht auf Glück – sondern um des Glücks willen."

"Der Wille, einen Affekt zu überwinden, ist zuletzt doch nur der Wille eines anderen oder mehrerer anderer Affekte."
Collage: Hedi Lusser; Bilder: NYPL Digital Collection, istock

Willensstark, klug oder gut

Ein solcher Verzicht um des Glücks willen hat den Vorteil, dass seine Antriebe leicht durchschaubar sind. "Der Wille, einen Affekt zu überwinden, ist zuletzt doch nur der Wille eines anderen oder mehrerer anderer Affekte", schrieb Friedrich Nietzsche. Bei der zweiten, der "abergläubischen" Art des Verzichts entsteht jedoch oft der trügerische Anschein, dass es sich anders verhielte.

Nicht weil ein stärkerer Affekt uns treibt, sind wir in der Lage zu verzichten, meinen wir dann, sondern allein deshalb, weil wir so willensstark, so klug oder so gut sind. Andere, die auf etwas Bestimmtes nicht verzichten, halten wir dann gerne schnell mal für schwächer, dümmer oder böser.

Wir blicken dann verächtlich hinunter zum Beispiel auf diejenigen, die noch Auto fahren müssen, weil sie sich die hohen Innenstadtmieten derjenigen, denen sie die Sandwiches servieren, nicht leisten können. Nicht die überlegene Kaufkraft hochbezahlter Jobinhaber, sondern allein ein achtsameres Umweltbewusstsein scheint uns dann den Unterschied zwischen Radfahrenden und Autofahrenden auszumachen.

Kostspielige Verzichtsseminare

Und dabei übersehen wir sogar oft noch, dass gerade die Radfahrenden mit ihren fernen Urlaubsreisen oder dank ihrer Nutzung von Streamingdiensten für ihre Kultserien oft die nachteiligeren ökologischen Fußabdrücke aufweisen. Der Satz "Less is more", 1947 von dem Architekten Mies van der Rohe formuliert, bedeutete in der Moderne, dass ein Verzicht auf Ornamente einen Gewinn an ästhetischer Qualität darstellen kann.

Heute, in der Postmoderne, hat dieser Satz eine andere Bedeutung angenommen. Eliten westlicher Metropolen besuchen kostspielige Verzichtsseminare, in denen sie lernen, was sie alles aus ihren Wohnungen entfernen könnten. Die "leisure class" um 1900 hatte sich noch in ostentativer Verschwendung, sogenanntem "Geltungskonsum" gefallen, wie der Soziologe Thorstein Veblen bemerkte.

Heute hingegen protzt man noch besser als mit der dicken Uhr mit deren Fehlen. Der Distinktionswert der Versagung ist unter Umständen noch höher als jener der großzügigen Verausgabung. Freilich muss man aber erst durch eine ganze Reihe von Verschwendungen dorthin gelangt sein, wo einem der Verzicht dann als besondere moralische, ästhetische oder umweltbewusste Leistung, zum Beispiel als sogenannte "Flugscham", angerechnet werden kann. Viele andere Leute gelangen ja gar nicht erst in die Lage, überhaupt fliegen zu können.

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"Nicht die überlegene Kaufkraft hochbezahlter Jobinhaber, sondern allein ein achtsameres Umweltbewusstsein scheint uns dann den Unterschied zwischen Radfahrenden und Autofahrenden auszumachen."
Foto: Reuters/Elliot

Verzicht und der Glaube daran

Religionsgeschichtlich hat das Verzichten eine sehr spezielle Schlagseite. In älteren, heidnischen Religionen musste man zu bestimmten Anlässen sehr viel essen oder trinken. In den jüngeren, asketischen, monotheistischen Religionen dagegen durfte man genau dann nichts essen oder trinken. Der Soziologe Émile Durkheim hat das eine als "positive", das andere als "negative Kulte" bezeichnet.

Auch abseits des religiösen Lebens spielt dieser Unterschied eine Rolle. Die postmoderne Kultur der Gegenwart zeigt, unter US-amerikanischem Einfluss, eine starke Präferenz für negative Kulte: statt Parfum zu tragen, lieber naturbelassen riechen; statt eleganter Schuhe lieber Turnschuhe anziehen; der Kollegin lieber kein Kompliment machen; den anderen Gast am Gang des Hotels lieber nicht grüßen, et cetera.

Abgesehen von der Frage, ob das eine besser ist als das andere, zeigt sich auch hier wieder der von Marcuse bemerkte Unterschied im Erkennen der Motive. Die Abstinenten halten sich gerne für etwas Besseres. Denn sie meinen, sie würden einer Pflicht folgen; die anderen hingegen würden, schwächer, bloß einer Neigung oder einem Trieb nachgeben. Was ihnen zu erkennen schwerfällt ist, dass auch die Ausübenden positiver Kulte, also diejenigen, die höflich grüßen, charmant Komplimente machen, sich elegant kleiden, parfümieren et cetera, einer Pflicht folgen könnten.

In Frankreich zum Beispiel muss man beim Begrüßen einer Dame "enchanté" sagen – gerade auch dann, wenn man es nicht ist. Die Schlagseite der Postmoderne jedoch besteht darin, zu übersehen, dass es eine Pflicht zu solchen positiven Kulten der Geselligkeit gibt.

An einem Geburtstag gehört es sich einfach, mit dem Jubilar ein Glas Sekt zu trinken. Die Postmoderne aber will uns glauben machen, dass jeder, der das tut, ein haltloser Trinker wäre, und ihre Utopie von Zivilisiertheit besteht in einem völlig aseptischen öffentlichen Raum, in dem keiner mehr am anderen auch nur anstreift.

Maßhalten auf maßvolle Weise

Eine der wichtigsten und gewitztesten Thesen des Epikur lautet, dass man auch das Maßhalten auf maßvolle Weise betreiben muss. Denn sonst verfällt man ja wieder in einen Exzess. Gegenwärtig tendieren wir gerne genau dazu: Wir mäßigen uns maßlos – zum Beispiel, weil wir nicht aufhören können, uns anderen überlegen fühlen zu wollen. Um jedoch aus der Spirale des Verzichtens – ebenso wie aus jener des endlosen Konsumierens – herauszukommen, braucht man vielleicht ein wenig Humor.

Wenn man in der Lage ist, ein wenig über sich selbst zu lächeln, dann kann man einsehen, dass man keinen ganzen Ozean zum Schwimmen und keine zehn Wohnungen zum Wohnen braucht. Und mit ein wenig Humor kann man andererseits auch zur Kenntnis nehmen – und diese ertragen –, dass jeder von uns, auch der Achtsamste, wohl immer mehr Schaden anrichtet als Nutzen: weil Leben insgesamt, wie der Philosoph Whitehead bemerkte, ein "Raubüberfall" ist. (Robert Pfaller, RONDO, 25.2.2020)