Der neue Berlinale-Co-Chef Carlo Chatrian will den Wettbewerb mit prononcierten Autorenstimmen stärken. Publikumsfilme zeigt er lieber in Nebenschienen.

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Am Donnerstag beginnt die erste Berlinale unter der Doppelspitze Carlo Chatrian (künstlerische Leitung) und Mariette Rissenbeek (Geschäftsführung). Die Neugierde auf das erste Programm des ehemaligen Leiters des Festivals Locarno ist groß, viele erwarten sich einen klaren Aufbruch von der langjährigen Ära von Dieter Kosslick. Ein Gespräch über Neuerungen, den digitalen Strukturwandel und die Schatten der Vergangenheit.

STANDARD: Mit Parasite hat erstmals ein nichtenglischsprachiger Film die wichtigsten Oscars gewonnen. Hebt diese Internationalisierung auch die Bedeutung von Filmfestivals?

Chatrian: Für Leute, die nicht nur US-Filme, sondern das Kino generell schätzen, sind das fantastische Nachrichten. Es ist ein Zeichen, wenn sich Hollywood für einen nichtenglischsprachigen Film öffnet. Das ist nicht nur für Cannes, wo der Film entdeckt wurde, eine große Ermutigung, sondern auch für andere Festivals.

STANDARD: Haben Sie auch einen Film im Aufgebot, der massenkompatibel und kunstfertig zugleich ist?

Chatrian: Darauf haben wir bei der Auswahl nicht geachtet. Es wäre nicht sinnvoll, Filme danach auszuwählen, ob sie es bis zum Oscar schaffen. Wir haben aber durchaus Filme programmiert, die viele Menschen sehen werden, etwa den neuen Pixar-Film Onward, den ich sehr mag. In Berlin erfolgt die Auswahl vor allem nach dem Kriterium, ob uns ein Film überrascht, ob er Fragen hinsichtlich unserer Identität, der Welt aufwirft oder ob er reflektiert, wie man Geschichten erzählen kann.

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STANDARD: Sie haben ein eigensinniges Line-up im Wettbewerb, das sich von früheren Jahren abzuheben versucht – mit Filmen von Tsai Ming-Liang, Abel Ferrara, Kelly Reichardt oder Hong Sang-soo. Wie bringt man das mit dem populären Geschmack, dem Bedürfnis nach Stars zusammen?

Chatrian: Das versuchen wir auszubalancieren, es gibt ja auch die Sektion Berlinale Special Gala, in der etwa ein Film mit Johnny Depp zu sehen ist. Einen Film in den Wettbewerb zu stellen, dessen erstes Ziel es ist, ein großes Publikum zu finden, wäre jedoch weder für den Film noch das Festival gut. Für den Wettbewerb haben wir nach starken Stimmen gesucht. Manche Filme haben Stars, etwa Sally Potters Film The Roads Not Taken, in dem Javier Bardem und Selma Hayek zu sehen sind.

STANDARD: Sie mussten sich gerade auch mit der Vergangenheit des Festivals beschäftigen, als neue Enthüllungen über die Nazi-Vergangenheit von Alfred Bauer bekannt wurden, dem langjährigen Direktor des Festivals. Ist der Berlinale-Mythos beschädigt?

Chatrian: Es gibt zwei Arten, diese überraschenden Neuigkeiten zu bewerten. Zum einen sollte man die Entwicklung als Gelegenheit sehen, ein neues Licht auf diese Geschichte zu werfen und Forschungen anzustellen. Das wird auch passieren. Da geht es allerdings darum, was vor Bauers Festivaltätigkeit war, denn es geht ja um seine Rolle während der Nazi-Ära. Die Geschichte der Berlinale selbst, die Filme, die gezeigt und prämiert wurden, erzählen für mich durchaus eine Geschichte der Freiheit. Unlängst haben wir über Die durch die Hölle gehen diskutiert haben, der hier 1979 große Aufregung verursacht hat.

STANDARD: Der Filmhistoriker Wolfgang Jacobsen sagte, er habe über die SA-Vergangenheit Bauers schon nach der Wende Bescheid gewusst und sogar Journalisten informiert. Warum hat das nicht schon damals für Empörung gesorgt?

Chatrian: Das ist eine Frage, die man einem ganzen Land stellen könnte. Ich bin sehr neu hier, aber was ich weiß, war Bauers Involvierung in den Nationalsozialismus bekannt, aber nicht, welche Position er in Goebbels' Filminstitut ausübte. Jacobsen hat es in seinem Buch über die Berlinale jedenfalls noch nicht berücksichtigt. Aber es ist wichtig, diese Fragen Historikern zu stellen.

Der Bär und das Leitungsduo, Mariette Rissenbeek und Carlo Chatrian.
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STANDARD: Die Berlinale hat sich immer das Politische auf die Fahne geheftet. Gibt es in Ihrem Programm dahingehend Kontinuität?

Chatrian: Es ging uns weniger um die Frage von Kontinuität oder Diskontinuität, wir wollten diese Frage mit den Filmen beantworten. Für mich liegt das Politische in den Filmen, in der Art, wie der Film sein Thema behandelt.

STANDARD: In einem Godard'schen Sinn? Es geht darum, Filme politisch zu machen?

Chatrian: Ja, aber auch ganz konkret: Ich gebe Ihnen ein Beispiel mit einem Film, der nicht im Wettbewerb läuft, Jetzt oder morgen, dem Dokumentarfilm der Österreicherin Lisa Weber. Es ist die Geschichte einer dysfunktionalen Familie. Das Politische des Films liegt darin, wie menschlich Weber diese Familie porträtiert. Der Film zeigt, wie stark sich Familienbande verändert haben. Es geht also nicht so sehr um Intellektualität, sondern um etwas Praktisches.

STANDARD: Sie haben einen zweiten Wettbewerb namens Encounters ins Leben gerufen. Worin liegt der feine Unterschied zum großen?

Chatrian: Encounters wurde geschaffen, bevor wir die Auswahl begonnen haben. Filmemacher produzieren heute oft an bewährten Strukturen vorbei. Die digitalen Mittel erlauben größere Freiheiten. Die Filme sind interessant, zugleich stehen sie produktionstechnisch oft nicht auf so soliden Beinen. Außerdem richten sie sich auf eine andere Weise ans Publikum. Ich will damit aber nicht sagen, dass wir im Hauptwettbewerb nur traditionelle Filme zeigen. Was Encounters anbelangt, geht es um etwas anderes: Die Form und die Sprache des Films kommen vor allem anderen.

STANDARD: The Trouble With Being Born der Österreicherin Sandra Wollner ist einer dieser Filme.

Chatrian: Ja, der sieht zwar aus wie ein Science-Fiction-Film, doch es geht weniger um die Zukunft als um die Frage, wie wir mit Erinnerung umgehen oder mit der Frage der sexuellen Identität. Wollner gelingt es, die Form des Sci-Fi-Films mit verblüffenden, ja verstörenden Szenen zu hinterfragen.

STANDARD: Nicht nur die Filme ändern sich, auch die Verwertungsstrukturen. Streamingfirmen drängen auch auf Festivals. Eine Vorstellung, wie die nahe Zukunft aussehen wird?

Chatrian: Ich glaube, schon in zwei Jahren wird das Szenario ein anderes sein. Alles ändert sich so schnell, dass eigentlich jede Vorhersage riskant ist. Wir wollen natürlich die Kinovorführung bewahren. Selbst Filmemacher, die für Netflix arbeiten, wollen das. Das heißt, wir brauchen bei Filmen von Netflix und anderen Content-Playern eine Garantie, dass dies möglich ist. Wir beantworten solche widersprüchlichen Fragen aber auch mit dem Festival. Und man sollte die Antworten nicht schon vor den Fragen formulieren. (Dominik Kamalzadeh, 19.2.2020)