Im Gastkommentar erwidert die Essayistin, Publizistin und Literatin Christa Nebenführ den Onlinedating-Erfahrungsbericht einer 65-Jährigen.

"Wenn es dir peinlich ist, kannst du immer noch sagen, es war Recherche", sagte meine Freundin, die Krankenschwester. Sie hat vor 20 Jahren ihren Mann nach 20 Jahren Ehe verlassen und mittels Datingbörse ihre Jugend nachgeholt. Nach vier Jahren passte es mit einem so gut, dass sie jetzt seit 15 Jahren glücklich mit ihm verheiratet ist.

Was braucht's für schöne Stunden zu zweit? Beruf, Haarfarbe, Alter oder Einkommen sind definitiv irrelevant.
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Natürlich war es mir peinlich! Deshalb registrierte ich mich vorerst nur und legte kein Profil an. Mein Eheleben lag brach, und ich wollte mich noch nicht von einem der schönsten Aspekte des Daseins verabschieden. Allerdings war ich nach Jahrzehnten zufriedener und glücklicher Monogamie vollkommen ahnungslos, wie ich einen Kontakt anbahnen könnte, der über Flirt und Freundschaft hinausgeht.

Erster Eindruck

Der erste Eindruck auf der Single-Plattform war ernüchternd. Sooo alt bin ich schon? Sooo vergreist sehen manche mit 50 aus? Dann gefiel mir einer, ich schrieb ihn an, und im Lauf der nächsten sechs Wochen verwickelte er mich in eine Korrespondenz, nach der ich mühelos eine Fortsetzung von Angst vorm Fliegen hätte verfassen können. Getroffen haben wir einander nie, und hinter dem hübschen Konterfei könnte natürlich ebenso gut Michel Houellebecq stecken, um das Beispiel aus Brigitte Webers "Weiblich, ledig, alt sucht ..." aufzunehmen, dem ich hier in einigen Punkten widerspreche. Wollte ich Kategorien anlegen, so würde ich sagen, die größte ist die jener, die nur virtuellen Sex suchen oder ihr bestes Stück aus Angst vor Sanktionen nicht vor der Mädchenschule auspacken wollen. Das sollte aber kein großes Problem sein: einfach schriftliche Erotik konsequent zurückweisen, entsprechende Bildchen wegklicken und den Absender blockieren. Frau wird nicht blind davon!

Trotzdem geschah es unter anderem, dass frau ein paar Tage aufs Schönste über Ismail Kadare korrespondierte und dann das Angebot bekam, sich am nächsten Tag im Dienstzimmer des Anschreibenden am anderen Ende der Stadt einen Quickie abzuholen. Hahaha. Die eingeweihten Freundinnen kringeln sich schon vor Lachen und sekkieren mich, über meine Dating-Erlebnisse ein Buch zu schreiben. Sollen sie wenigstens einen Zeitungsartikel bekommen.

Ein Tabuthema

Letztendlich führten zwei Jahre auf zwei Plattformen zu zwei Knutschereien, zwei One-Night-Stands und einem Two-Nights-Stand. Alle vom Feinsten. Wie früher. Kichernd, küssend, begehrend. Es ist aber in der Ägide der seriellen Monogamie ein Unterschied, ob mann einen vereinzelten Seitensprung zu beichten hätte oder einige Jahre Gasthausessen. Dieses Problem harrt der Lösung. Die Altersklasse bewegte sich von 42 bis 64, und ich fand das Hörgerät des Letzteren durchaus charmant, habe ich doch selbst schon graue Strähnen und ein paar Kilo zu viel, und neuerdings wackeln sogar Zähne. Viele Erfahrungen der Kollegin Weber decken sich mit meinen: Yachtbesitzer mit Rechtschreibschwäche, gestohlene Brieftaschen (nicht meine), mangelnde Körperpflege (oft), aber ...

Warum versteckt sich eine 65-Jährige bei der Reportage über Beziehungsanbahnungen hinter einem Decknamen? Bei entsprechender Nachfrage teilt sich mein Bekanntenkreis geschlechtsunabhängig in drei Gruppen: diejenigen, die "drüber" sind, diejenigen, die sich in einer lebendigen Beziehung befinden, und diejenigen, die "es" schmerzlich vermissen (viele davon in langen Beziehungen). Das geben sie aber höchstens nach ein paar Achterln und unter dem Siegel absoluter Verschwiegenheit zu. Es wird zwar publikgemacht, dass zum Beispiel gerne Geld verdient oder ein Buch geschrieben oder eine teure Reise angetreten würde, aber nur ja nicht, dass körperliche Nähe gesucht wird. Das gilt als ungefähr so entwürdigend wie der Antrag auf bedarfsorientierte Grundsicherung. Dabei gibt es in jeder größeren Stadt bereits Tantra-Studios. Und die beschäftigen sich überwiegend nicht mit spiritueller fernöstlicher Lebensweisheit.

Verräterischer Hinweis

Zurück zu Kollegin Weber: Sie bedauert fehlende Berufsangaben und das mangelnde Bedürfnis nach intellektueller Auseinandersetzung. Sucht sie Mitarbeiter? Traut sie sich nicht in öffentlich zugängliche Diskussionsabende? Läuft es mit einem Oberarzt besser als mit einem Tischler? Muss sie Freizeit totschlagen?

Ich gebe zu, dass auch für mich von vielleicht 100 Profilen 99 nicht passen. Weil mir der Mann nicht gefällt, weil er jemanden für explizit eingegrenzte Praktiken sucht, weil durch seine Anmache nicht der kleinste Witz durchschimmert ... Aber Beruf, Haarfarbe, Alter oder Einkommen sind definitiv irrelevant für schöne Stunden zu zweit. Mich belustigte bei einigen Profilen der Zusatz "Dauerbeziehung nicht ausgeschlossen". Doppelte Verneinung und verräterischer Hinweis: Frauen wollen in den Augen vieler Männer vor allem eine Beziehung! Deshalb wird diese nicht ganz ausgeschlossen.

Obszöne Macht

Und wen wundert’s angesichts der Hysterie um sexuelle Belästigung? Nein, ich verharmlose weder Gewalt noch gesellschaftlichen und ökonomischen Machtmissbrauch. Aber warum wird dieser so sehr auf den Aspekt der Sexualität fokussiert? Warum wird die Obszönität von Machtdemonstrationen, sei es durch Reichtum oder Funktion, so selten in anderen Zusammenhängen thematisiert? Beispielsweise in Rechtskonflikten von Prominenten mit dem Personal ihrer Firmen. Jo mei, man wird ja noch probieren dürfen, Arbeitsrechte auszuhebeln. Is eh nix passiert. Das gesellschaftliche Machtgefälle ist angetastet, aber nicht ausgehebelt. Dabei stellt sich eine interessante Frage: Welche Chancen hätte Harvey Weinstein wohl auf einer Datingplattform? Vermutlich weniger als beim Casting in seiner Suite.

Ich finde digitales Daten demokratisch. Viel Spaß! (Christa Nebenführ, 19.2.2020)