Gegen knapp 700 mutmaßliche Gülen-Anhänger wurden Haftbefehle erlassen.

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Istanbul – Die Menschenrechtskommissarin des Europarats, Dunja Mijatovic, hat nach einem Besuch in der Türkei große Besorgnis über die Unabhängigkeit des dortigen Justizsystems geäußert. Die türkische Justiz scheine seit der Verfassungsreform im Jahr 2017 zunehmend parteiische Urteile und Entscheidungen zu fällen, die in eine Richtung gehen, kritisierte Mijatovic in einem am Mittwoch veröffentlichten Bericht.

Das Land müsse die Unabhängigkeit der Justiz wieder herstellen und aufhören, Menschenrechtsverteidiger zum Schweigen zu bringen, forderte Mijatovic. Die Menschenrechtskommissarin war im Juli 2019 in die Türkei gereist.

Insbesondere in Fällen und Urteilen im Zusammenhang mit Terrorismus lege die Türkei ein beispielloses Maß an Missachtung der grundlegendsten Rechtsgrundsätze an den Tag, heißt es in dem Bericht. Mijatovic kritisierte, dass strafrechtliche Ermittlungen, Verfahren, Inhaftierungen und Urteile missbraucht würden, um gegen Menschenrechtsaktivisten vorzugehen.

Herausforderungen bei Anti-Terror-Kampf

Sie sei sich der Herausforderungen bewusst, denen sich die Türkei bei der Bekämpfung terroristischer Organisationen gegenübersehe, sagte Mijatovic. Dabei die Menschenrechte zu missachten, schade jedoch dem Kampf auf lange Sicht und untergrabe gleichzeitig die Rechtsstaatlichkeit und das Vertrauen in das Justizsystem.

Der Europarat mit Sitz im französischen Straßburg kümmert sich um den Schutz der Menschenrechte in den Mitgliedsstaaten. Er agiert unabhängig von der Europäischen Union.

Massenverhaftungen

In der Türkei gehen die Behörden dieser Tage wieder mit Massenverhaftungen gegen mutmaßliche Gegner von Präsident Tayyip Erdoğan vor. Die Staatsanwaltschaft habe fast 700 Haftbefehle unter anderem gegen Angehörige des Militärs und der Justiz erlassen, berichteten Staatsmedien am Dienstag Abend. Sie sollen Anhänger der Bewegung des im US-Exil lebenden Predigers Fethullah Gülen sein. Erdoğan wirft seinem einstigen Mitstreiter vor, hinter dem Putschversuch vom Juli 2016 zu stecken. Auch der bekannte Kunstmäzen Osman Kavala wurde unmittelbar nach seiner überraschenden Freilassung am Dienstag erneut verhaftet.

Die Nachrichtenagentur Anadolu meldete, die Staatsanwaltschaft habe bei Ermittlungen gegen Angehörige der Luftwaffe die Festnahme von 157 Personen angeordnet, darunter 101 aktive Offiziere. Etwa 100 Personen seien bereits festgenommen worden. In Ankara richtete sich das Vorgehen gegen Beschäftigte des Justizministeriums. Hier wurden laut Anadolu 71 Personen festgenommen. Weitere 467 Haftbefehle seien im ganzen Land ergangen.

Behörden infiltrieren

Am Mittwoch bezeichnete Erdoğan die regierungskritischen Gezi-Proteste von 2013 als "niederträchtigen Angriff". Wie Militärputsche und "Anschläge von Terrororganisationen" seien die Ereignisse von Gezi ein "niederträchtiger Angriff, der es auf den Staat und das Volk abgesehen hat".

Erdoğan wirft Gülen und seinen Anhängern seit Jahren vor, einen Parallelstaat errichten zu wollen, indem sie Polizei, Militär, Justiz und Verwaltung infiltrieren. Seit dem Putschversuch wurden rund 80.000 Personen angeklagt. Etwa 150.000 Beschäftigte unter anderem der Verwaltung und des Militärs wurden entlassen oder suspendiert. Die EU und Menschenrechtsgruppen haben das Vorgehen kritisiert. Erdoğan rechtfertigt es als notwendige Antwort auf die Bedrohung der Sicherheit.

Der Türkei-Berichterstatter für das Europäische Parlament, Nacho Sanchez Amor, reagierte auf Twitter ebenfalls besorgt: "Man kann nicht an irgendeine Verbesserung in der Türkei glauben, wenn der Staatsanwalt jeden Schritt vorwärts untergräbt."

Die Staatsanwaltschaft warf Kavala, einem bekannten Vertreter der türkischen Zivilgesellschaft, am Dienstag nur wenige Stunden nach seiner Freilassung eine Verwicklung in den Putschversuch von 2016 vor und erließ erneut einen Haftbefehl. Laut Anadolu wurde er von der Polizei für Gesundheitstests in ein Krankenhaus gebracht und danach erneut formell in Haft genommen. Erst am Vormittag war Kavala nach über zwei Jahren Haft überraschend von dem Vorwurf freigesprochen worden, bei den regierungskritischen Gezi-Park-Protesten 2013 einen Umsturz beabsichtigt zu haben. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hatte die Türkei für das Verfahren gerügt. (Reuters, red, 19.2.2020)