Bild nicht mehr verfügbar.

Foto: AP/Emrah Gurel
Osman Kavala bleibt in Haft, wenngleich aus anderen Gründen (im Bild: Kavalas Anwälte bei einer Pressekonferenz im Oktober 2018).
Foto: AFP / Ozan Kose

Es war kalt, doch die Stimmung vor dem Hochsicherheitsgefängnis in Silivri, einem westlichen Vorort von Istanbul, war bestens. Erst vor einigen Stunden hatte ein Gericht im Justiztrakt des Gefängnisses in einem von allen als Sensation empfundenen Urteil den bekannten Mäzen, Menschenrechtler und Verleger Osman Kavala zusammen mit acht weiteren Anklagten von allen Vorwürfen, sie hätten einen Umsturz gegen die türkische Regierung geplant, freigesprochen.

Bild nicht mehr verfügbar.

Polizisten vor dem Hochsicherheitsgefängnis in Silivri.
Foto: AP/Emrah Gurel

Kurz zuvor hatte die Staatsanwaltschaft Kavala, die Architektin und Sprecherin der Bürgerinitiative vom Taksim-Platz, Mücella Yapıcı, und den Menschenrechtsaktivisten Yiğit Aksakoğlu noch lebenslang im Gefängnis sehen wollen.

Große Überraschung – und dann der Schock

Ungläubiges Erstaunen im Gerichtssaal, als dann die Freisprüche verkündet wurden. Kavala, der als Einziger der Angeklagten im sogenannten Gezi-Prozess die vergangenen zwei Jahre in Untersuchungshaft im berüchtigten Gefängnis Silivri hatte verbringen müssen, sollte nach dem Freispruch am frühen Nachmittag noch am Abend entlassen werden. Deshalb warteten Freunde, Anwälte und Ayşe Buğra, die Ehefrau von Kavala, in freudiger Erwartung auf ihren Freund und Ehemann.

Dann kam der Schock. Plötzlich machte die Nachricht die Runde, Kavala sei erneut verhaftet worden. Was zunächst niemand glauben konnte, bestätigte sich dann bald.

Laut Kavalas Anwälten war dieser, wie immer vor einer Entlassung, zunächst einem Arzt außerhalb des Gefängnisses vorgeführt worden, der den Untersuchungshäftlingen bescheinigen soll, dass sie in der U-Haft keinen Schaden genommen haben. Doch dann wurde Kavala nicht zurück nach Silivri gebracht, um dort formal entlassen zu werden, sondern zur Hauptpolizeidirektion in Istanbul, wo ihm ein Staatsanwalt eröffnete, er sei erneut festgenommen worden: Man ermittle gegen ihn nun wegen Beteiligung am Putschversuch gegen Präsident Tayyip Erdoğan im Sommer 2016.

Dramatische Wendung

Für Buğra, selbst Wirtschaftsprofessorin an einer renommierten Istanbuler Universität, war diese Wendung am Dienstagabend kaum noch auszuhalten. Über zwei Jahre hatte sie um Kavala gebangt, war überglücklich gewesen, als der Freispruch kam – und dann das: "Sie ist am Boden zerstört", sagte einer der Anwälte aus dem Verteidigerteam.

Formal sitzt Kavala nach seiner Freilassung nun wieder in Polizeihaft und wartet darauf, einem Haftrichter vorgeführt zu werden. "Das ganze üble Spiel beginnt von Neuem", kommentierte das die Türkei-Vertreterin von Human Rights Watch, Emma Sinclair Webb, am Mittwochvormittag. Es sei ein "rachsüchtiges und gesetzloses Vorgehen".

Von einer "zynischen und kalkulierten Grausamkeit" sprach Amnesty International, dessen türkischer Vorsitzender Taner Kılıç und die AI-Geschäftsführerin in der Türkei, İdil Eser, am Mittwoch selbst in einem anderen Prozess gegen zehn Menschenrechtler auf ihr Urteil warteten.

Tayyip Erdoğan über Osman Kavala: "Mit einem Manöver haben sie gestern versucht, ihn freisprechen zu lassen."
Foto: Adem ALTAN / AFP

Für die meisten Beobachter war jedoch die Verwirrung über dieses "neue Kapitel der türkischen Justizwillkür", wie die NGO Reporter ohne Grenzen die erneute Festnahme Kavalas nannte, am Dienstagabend perfekt. Warum hatte das Gericht Kavala nicht gleich verurteilt, wenn er doch wenig später wieder festgenommen wurde? Der vorsitzende Richter im Gezi-Prozess hatte am Dienstagnachmittag die Freisprüche für die Angeklagten damit begründet, dass die Staatsanwaltschaft für den behaupteten Umsturzversuch gegen die Regierung, für den Kavala das Geld beschafft haben soll, keine Beweise vorlegen konnte. Gibt also doch noch unabhängige Richter in der Türkei?

Proteste niedergeknüppelt

Für die Staatsanwaltschaft wäre es allerdings auch unmöglich gewesen, Beweise für den Umsturzversuch vorzulegen – weil die Gezi-Proteste im Sommer 2013 eben kein konspirativer Umsturzversuch waren, sondern ein zunächst lokaler Protest gegen die Bebauung eines Parks auf dem Istanbuler Taksim-Platz, gegen die eine Bürgerinitiative protestierte.

Als dieser völlig harmlose Prostet brutal niedergeknüppelt wurde, bildeten sich überall in der Türkei Gruppen zur Unterstützung der Bewegung, und selbst Demonstrationen gegen die Willkür und Repression der Regierung begannen in verschiedenen Städten der Türkei. Für Erdoğan, damals noch Ministerpräsident, waren die Demonstrationen jedoch gleich ein Versuch, illegal seine Regierung zu stürzen.

Am Mittwochvormittag nahm der jetzige Staatspräsident Erdoğan in einer Rede vor seiner Fraktion zu der erneuten Festnahme Kavalas Stellung. Er machte deutlich, dass er die damaligen Proteste immer noch für einen Umsturzversuch hält, und nannte sie einen "niederträchtigen Angriff auf das Volk". Zu Kavalas Freispruch vom Vorwurf, an dem vermeintlichen Umsturz führend beteiligt gewesen zu sein, sagte Erdoğan: "Mit einem Manöver haben sie gestern versucht, ihn freisprechen zu lassen."

Offenbar hatte das Gericht tatsächlich unabhängig und gegen den Willen Erdoğans auf Freispruch entschieden. Doch wer sind "sie", die dieses Manöver in Auftrag gegeben haben? Seit dem Putschversuch vom Sommer 2016 ist Erdoğan besessen von der Vorstellung, im In- und Ausland werde ständig gegen ihn konspiriert. Da folglich Kavalas Freilassung nur das Ergebnis einer Verschwörung gegen ihn gewesen sein kann, wurde dieser erneut festgenommen. Diesmal wird ihm vorgeworfen, an dem Putschversuch im Sommer 2016 beteiligt gewesen zu sein. Beweise dafür gibt es selbstverständlich nicht. Gemeinsam mit Kavala soll die Staatsanwaltschaft fast 700 Haftbefehle unter anderem gegen Angehörige des Militärs und der Justiz erlassen haben, berichteten türkische Medien am Mittwoch.

Internationale Empörung

Die erneute Festnahme Kavalas löste große Empörung aus. Ein Sprecher des EU-Außenbeauftragten Josep Borrell sagte am Mittwoch in Brüssel, diese beschädige die Glaubwürdigkeit des türkischen Justizsystems weiter. Als Beitrittskandidat der EU sowie als Mitglied des Europarats werde von der Türkei erwartet, höchste demokratische Standards zu erfüllen. "Juristische Verfahren können nicht als Mittel dafür benutzt werden, kritische Stimmen zum Schweigen zu bringen", sagte er.

Nach Angaben der Nachrichtenagentur Anadolu kündigte die Staatsanwaltschaft am Mittwoch an, Einspruch gegen die Freisprüche im Zusammenhang mit den Gezi-Protesten einzulegen. Zudem soll der Rat der Richter und Staatsanwälte nun gegen die Mitglieder des Gerichts, das am Vortag die Urteile gefällt hatte, ermitteln. (Jürgen Gottschlich aus Istanbul, red, 19.2.2020)