In Fessenheim, unmittelbar am französischen Rheinufer gelegen, wird derzeit das letzte Kapitel des dortigen Atomkraftwerks geschrieben.
Foto: APA/AFP/SEBASTIEN BOZON

Am kommenden Samstag um 2.30 Uhr in der Früh stoppt der Stromkonzern Electricité de France (EDF) am Rheinufer den ersten von zwei 900-Megawatt-Meilern, den N.1. In vier Monaten, am 30. Juni, folgt der Reaktor N.2, wie die französische Regierung am Mittwoch in einem Dekret ankündigte. Dann wird das dienstälteste von 58 französischen Atomkraftwerken keinen Strom mehr produzieren.

Endlich, meinen die AKW-Gegner beiderseits des Rheins. Warum nur? Das fragen dagegen viele Einwohner des Dorfs Fessenheim. Der Schließungsentscheid war hochpolitisch – wegweisend und historisch für die einen, unsinnig und klimaschädlich für die anderen. Tatsache ist: Das 1977 ans Netz gegangene AKW liegt in einer Erdbebenzone, die im Mittelalter schon einmal die 34 Kilometer entfernte Stadt Basel heimgesucht hat. Und es liegt unterhalb der Wasserlinie des Rheinkanals, also in einem Überschwemmungsgebiet. Vor allem auf deutscher und schweizerischer Seite war die Angst vor einem Super-GAU groß.

Länger in Betrieb

Jahrelange Proteste halfen nichts. Fessenheim ist längst amortisiert und liefert mehr Strom denn je zuvor. EDF kämpfte deshalb in Paris mit allen Mitteln um eine Laufzeitverlängerung des hochrentablen Werks. 2012 hatte Präsident François Hollande im Wahlkampf angekündigt, er wolle den Atomanteil an der nationalen Stromproduktion bis 2025 von 75 auf 50 Prozent senken. Zu dem Zweck werde er als Erstes Fessenheim abschalten, versprach er.

Als seine Amtszeit 2017 zu Ende ging, stand aber immer noch kein Schließungstermin fest. Nachfolger Emmanuel Macron fand EDF mit einer Entschädigung von 434 Millionen Euro ab. Die Vereinigung Sortir du nucléaire ("Aus der Atomkraft aussteigen") schätzt sie wegen offener Vollzugsklauseln sogar auf vier Milliarden Euro.

Vor Kommunalwahlen

Damit zahlen letztlich die Steuerzahler, was für Macron zuerst ein wahlpolitischer Akt ist: Um sich mit den Grünen gut zu stellen, legte er die Schließung des ersten Fessenheim-Reaktors auf den 22. Februar fest, drei Wochen vor den französischen Kommunalwahlen.

Die grüne Partei Europe Ecologie-Les Verts (EELV) begrüßt die Schließung Fessenheims natürlich. Aber sie weiß, dass dieses wahlpolitische Geschenk nicht den Atomausstieg Frankreichs bedeutet, sondern höchstens eine Diversifizierung. Macron ist ein Befürworter des "nucléaire", der Atomkraft. Er nennt sie in einem Atemzug mit den erneuerbaren Energien, um die CO2-Belastung Frankreichs zu senken. Wie Hollande verspricht er, den Atomstromanteil auf 50 Prozent zu senken – aber nicht schon 2025, sondern erst 2035. Dann wird Macron nicht mehr im Elysée regieren.

Sechs neue Reaktoren

In der Zwischenzeit soll EDF sogar sechs neue Reaktoren bauen. Einer davon, der neuartige Druckwasserreaktor EPR (European Pressurized Reactor), entsteht derzeit im Normandie-Ort Flamanville. Die Baukosten haben sich aber auf 12,4 Milliarden Euro verdreifacht; die Inbetriebnahme wird ständig aufgeschoben, da die Atomsicherheitsbehörde ständig neue Baumängel findet.

Die Inbetriebnahme des Druckwasserreaktors in Flamanville an der Atlantikküste wurde wegen Mängeln wiederholt aufgeschoben.
Foto: APA/AFP/LOU BENOIST

Flamanville ist ein doppeltes Symbol – für das verlorene Know-how der französischen Atomingenieure, die jahrzehntelang keine Reaktoren mehr gebaut haben, aber generell auch für die milliardenteure Krise der französischen Atomindustrie. Erstmals seit den 60er-Jahren, als Charles de Gaulle die energiepolitische Autarkie Frankreichs dank seines Nuklearkurses ausgerufen hat, sind die Kernkraftgegner in Frankreich in der Mehrheit: 53 Prozent der Franzosen sprachen sich 2019 in einer Umfrage für den Atomausstieg aus.

Klimaargument zieht nicht

Das Klimaargument – Kernkraft ist CO2-frei – zieht offenbar immer weniger. Die französische Atomindustrie wird heute vor allem als Hemmschuh für die Entwicklung der erneuerbaren Energien wahrgenommen. Ein Beispiel: Frankreich verfügt zwar über lange Meeresküsten, doch der Bau von Offshore-Windparks kommt kaum voran. EDF scheint daran bedeutend weniger interessiert zu sein als am Bau neuer Atommeiler. Dank ihnen produziere Frankreich pro Kopf weniger CO2 als etwa die Deutschen, meint EDF-Vorsteher Jean-Bernard Lévy.

Auch beim Abbau der Fessenheim-Anlage bekundet Lévy wenig Eile. Anfang Februar übte die Atomsicherheitsbehörde sogar offen Kritik wegen "ungenügender" Vorbereitung der jahrelangen Stilllegungsarbeiten. EDF muss nun Zusatzinformationen für sämtliche Etappen von den Vorbereitungsarbeiten bis zur Behandlung der radioaktiven Abfälle liefern. Der Abbau von Fessenheim wird nach dem offiziellen Fahrplan bis 2040 dauern. Experten rechnen mit einer längeren Dauer.

Wirtschaftspark statt Kraftwerk

Die Gemeinde Fessenheim (2.400 Einwohner) befürchtet einen Exodus von bis zu 400 EDF-Angestellten. Deutschland und Frankreich haben zwar im Aachener Abkommen von 2019 vereinbart, dass sie das stillgelegte AKW durch einen gemeinsamen "Wirtschafts- und Innovationspark" ersetzen wollen. Das Projekt kommt aber nicht vom Fleck. Die elsässischen Lokalpolitiker wollen keine deutsche Mitsprache, da sie schon untereinander uneins sind.

Daran scheiterte auch die Idee, den Elektroautohersteller Tesla nach Fessenheim zu holen; er zog Ende 2019 Berlin als Standort vor. Eine Entstrahlungsanlage für radioaktive Metalle am Rhein scheint dafür nicht auf den Zuspruch deutscher Partner zu stoßen. Fessenheims industrielle Zukunft scheint nicht gerade strahlend. (Stefan Brändle aus Paris, 19.2.2020)