Vor dem Arztbesuch kann einem angst und bange werden, das liegt nicht nur an der drohenden Spritze. Wer die Schlagzeilen der letzten Tage liest, dem drängt sich die Befürchtung auf, für die nächste Behandlung tief ins Börsel greifen zu müssen: In der Österreichischen Gesundheitskasse (ÖGK) klafft laut Prognose ein Budgetloch von 1,7 Milliarden Euro.

Jene, die sich als Verteidiger des öffentlichen Gesundheitssystems gerieren, tragen ein Stück weit zur Verunsicherung bei. Die roten Arbeitnehmervertreter haben stets rasch das jeweils übelste Szenario parat. Sowohl die türkis-grüne Bundesregierung als auch der ÖGK-Chef haben neue Selbstbehalte dementiert – dennoch malen die Sozialdemokraten diesen Teufel lustvoll an die Wand.

In der Österreichischen Gesundheitskasse (ÖGK) klafft laut Prognose ein Budgetloch von 1,7 Milliarden Euro.
Foto: APA/HERBERT NEUBAUER

Doch selbst wenn sich die Prognose als viel zu pessimistisch herausstellen sollte, ist der Kern der Kritik nicht von der Hand zu weisen: Tatsächlich hat die einstige türkis-blaue Regierung die für die Gesundheitsversorgung der Arbeitnehmer zuständige Institution finanziell geschwächt. Über den Sinn der einzelnen Beschlüsse kann man diskutieren – die Folgen fürs Kassenbudget aber sind unvereinbar mit den vollmundigen Versprechen von einst.

Um mit dem grünen Sozialminister Rudolf Anschober zu sprechen, der als Newcomer wenig Rücksicht auf türkis-blaue Propaganda nehmen muss: Die "Patientenmilliarde" ist nicht in Sicht, da kann Kanzler und ÖVP-Chef Sebastian Kurz noch so viele faktenresistente Stehsätze entgegenhalten.

Machtverschiebung

Das muss nicht bedeuten, dass die Versicherten völlig durch die Finger schauen. Wenn das Versprechen von ÖGK-Chef Bernhard Wurzer hält, dann sollen Leistungen für Patienten im Zuge einer Harmonisierung im Laufe der nächsten fünf Jahre um 100 Millionen Euro aufgebessert werden – immerhin. Doch verheißen haben ÖVP und FPÖ das Zehnfache. Zum Beispiel, um die ärztliche Versorgung auf dem Land auszubauen.

Als handfeste Resultate der türkis-blauen Reformen in der Sozialversicherung bleiben bis dato nur die Machtverschiebung im Apparat zugunsten der Arbeitgebervertreter sowie die Senkung der Unfallversicherungsbeiträge für Unternehmer übrig – und ein unguter Kulturwandel im Umgang der Kontrahenten miteinander. Den sozialdemokratischen Gewerkschaftern ist Alarmismus nicht fremd, doch als Meister der Provokation hat sich Sozialversicherungschef Peter Lehner, ÖVP-Stadtrat in Wels, profiliert. Seine Tirade gegen die "rote Selbstverwaltung" klang wie direkt von der türkisen Parteizentrale diktiert, seine Rechtfertigung, warum manche Berufsstände bessere Kassenleistungen als andere haben, nach Verhöhnung.

Es stehe doch eh jedem frei, seinen Beruf nach Belieben zu wählen, wiegelte Lehner die Idee ab, für gleiche Konditionen für alle zu sorgen – als sei es eine kluge Empfehlung an Teenager, eine Beamtenlaufbahn einzuschlagen, nur weil sie Zahnprothese und Zeckenimpfung dann billiger bekommen.

Die von Kurz mutwillig demontierte Sozialpartnerschaft soll hier nicht glorifiziert werden. Doch bei allen Blockaden und Schaukämpfen blieb in der Vergangenheit meist doch eine Gesprächsbasis zwischen den Vertretern von Arbeitgebern und Arbeitnehmern bestehen. Dass Minister Anschober die Kultur des gesitteten Interessenabtausches wiederbeleben will, ist ein überfälliger Schritt: So, wie derzeit die Fetzen fliegen, ist daran zu zweifeln, dass die Protagonisten die Pro bleme der Kasse vernünftig lösen.(Gerald John, 20.2.2020)