Der Umgang mit Nutzerdaten und der Schutz der Privatsphäre im digitalen Zeitalter sind ein Dauerbrenner in der öffentlichen Diskussion. Welche Informationen sammeln Plattformen wie Facebook, was tun sie damit, und welche Kontrolle geben sie ihren Nutzern? Fragen, mit denen sich Chris Dancy wenig beschäftigt. Er gilt als der "Most Connected Man Alive", der vernetzteste Mann der Welt.

Mit "über 1.000" Geräten und Sensoren vermisst Dancy derzeit fast alle Aspekte seines Lebens. Er ist "unsere Zukunft", sagt er von sich selber. Ein Statement, das man laut dem Buchautor Douglas Rushkoff sowohl als Einladung als auch als Drohung verstehen sollte. Dancy kategorisiert seine Aufzeichnungen in drei Bereiche – Biologie, Verhalten und Umwelt –, die in weitere Subkategorien aufgedröselt werden. Anlässlich der Domain-Pulse-2020-Konferenz hat er mit dem STANDARD gesprochen.

Vocativ

Entschleunigung

Die Daten und ihre Analyse helfen ihm, sein Leben zu optimieren. Der für ihn wichtigste Gewinn bisher war es, sich selbst zu entschleunigen. Ohne die Daten als Anhaltspunkte würde er gedanklich ständig "von einem Ding zum nächsten rasen", sagt er. Das Tracking ermöglicht es ihm, sich besser mit dem Hier und Jetzt auseinanderzusetzen und später darüber zu reflektieren.

Die Sammlung der Daten läuft über zwei Plattformen. Eine ist öffentlich einsehbar, die andere nicht. Beide sind allerdings cloudbasiert. Sorgen hinsichtlich des Datenschutzes macht sich Dancy nicht. "Privatsphäre existiert für die Armen nicht, und den Reichen ist es egal", meint er. Wohlhabende und bekannte Menschen würden ständig Opfer von Verletzungen ihres Datenschutzes – wenn etwa Fotos oder Nachrichten geleakt werden. Während Menschen mit wenig Geld bei so etwas um ihre beruflichen Chancen bangen, haben solche Vorfälle auf Vermögende keine nachhaltigen Auswirkungen.

So klassifiziert Chris Dancy seine Gesundheitsdaten.
Foto: Chris Dancy

Privatsphäre ist ein Konstrukt

Die einzigen Daten, die Dancy schützt, sind jene, die verraten, zu welcher Zeit er sich an welchem Ort aufhält, da es hier um physische Sicherheit geht. "Ob jemand weiß, dass ich gerade ein Buch lese oder etwas esse, ist mir egal."

Das Konzept der Privatsphäre sei ohnehin nicht real. Vor 150 Jahren hätten wir von- und übereinander gelernt, indem wir uns gegenseitig beobachteten – auch Dinge wie Gemeinschaftssinn und Mitgefühl. Das Bedürfnis nach so etwas wie Privatsphäre ist Dancys Meinung nach in den letzten Jahrzehnten als Antwort auf die "ausufernde Konsumgesellschaft" konstruiert worden.

"Radikale Transparenz"

Gefragt, wie man mit der zunehmenden Angst der Menschen vor einem dystopischen Überwachungsszenario wie in George Orwells "1984" umgehen soll, meint Dancy, der 25 Jahre im Technologie- und Gesundheitsbereich tätig war: "Das Szenario ist schon da." Wir erziehen Kinder mit Geofencing, Sicherheitsrichtlinien und medizinischer Überwachung. "Was wir eigentlich fürchten, ist der Verlust von Teilhabe an dieser Überwachung", sagt er. Denn es werde immer Menschen geben, die die "Religion der Kontrolle" auf die eine oder andere Art untergraben.

Die Abschottung von Daten sorge lediglich für Einschränkungen – etwa dass man aufgrund der DSGVO eine Reihe von US-Webseiten nicht mehr einfach aufrufen kann, weil deren Angebot nicht den neuen EU-Vorgaben entspricht. Er ist auch gegen das "Recht auf Vergessen", da man damit beginnen würde, in einer Welt, in der die digitale Identität zunehmend bedeutend ist, Fingerabdrücke zu löschen. Umsetzbar sei besserer Datenschutz zudem nur mit dem Einsatz von noch mehr Technologie, die größere Probleme aufwerfen könnte, als sie löst. Als Beispiel nennt er etwa KI-basierte Systeme, deren Entscheidungsfindung undurchschaubar sei.

Foto: Chris Dancy

Als Verfechter von "radikaler Transparenz" spricht er sich vehement gegen Blackboxes aus. Würde man stattdessen alle Daten auf den Tisch legen, würde man auch schnell feststellen, dass viele der befürchteten negativen Konsequenzen – etwa für die Arbeitssuche – unbegründet seien, weil eben niemand ein perfektes Leben führe. "Wir verpassen stattdessen die Möglichkeit, uns selbst mit unseren Daten zu bereichern."

Tech-Riesen sind die neuen Staaten

Was die wachsende Macht von Konzernen wie Facebook angeht, sieht Dancy die Lösung nicht in deren Zerschlagung, wie sie etwa manche Präsidentschaftsanwärter der US-Demokraten fordern. Man müsse die Tech-Riesen mittlerweile wie Staaten betrachten.

"Wir leben ein Leben in zwei Welten: einer der Erde und der Menschen und einer der digitalen Identitäten und Plattformen. Diese neuen Staaten brauchen neue Regeln und geteilte Aufsicht durch die alten Staaten. Jeder physische Staat braucht einen Botschafter für die virtuelle Welt. Es ist nicht möglich, Technologie zu zerschlagen oder nur durch Regulierung 'besser' zu machen. Was wir tun können, ist, den Reisenden zwischen diesen Welten besseres Urteilsvermögen beizubringen."

China: Gute Technik, schlechte Implementation

Es sei außerdem wichtig, nicht nur die negativen Seiten von Technologie zu betrachten, sondern sich wieder mit mehr kindlicher Neugier mit ihrer "Magie" und ihren Chancen zu befassen. Technologische Infrastruktur wie in China biete viel Potenzial, doch die Implementation als alles kontrollierender Überwachungsstaat sei schlecht.

In Disneyworld würden Besucher auch beständig überwacht, die Betreiber wüssten stets, wo man sich aufhält und welche Events oder Attraktionen man besucht. Nur würden diese Informationen dazu verwendet, den Aufenthalt der Gäste so angenehm wie möglich zu machen.

Chris Dancy

Zukunftsprognosen

Um zu gewährleisten, dass das Zeitalter der Vernetzung mehr Disneyworld und weniger China wird, braucht es nach Dancys Ansicht nach jedoch so etwas wie eine globale Verfassung für Technologie. Den Zeitraum bis zur Entstehung einer solchen schätzt er auf 20 Jahre. Bis es so weit sei, würden aber immer mehr Menschen in dezentralisierten Netzen, "Splinternets", nach ihren eigenen Regeln leben.

Die Übergangsphase könnte jedoch unangenehm werden. In zehn Jahren könnten Tech-Unternehmen darum konkurrieren, den Menschen Hilfe darin zu leisten, sich in zerfallenden Nationalstaaten zurechtzufinden und mit den psychischen Folgen des Zusammenbruchs umzugehen, prognostiziert er.

Im schlimmsten Fall sind sie dann auf die überwachte Infrastruktur dieser Staaten angewiesen und ziehen sich so weit in die digitale Welt zurück, dass sie aufhören, mit der realen Welt um sich herum zu interagieren. Im besten Fall lernen sie von unseren "digitalen Höhlenmalereien" aus den Fehlern der Vergangenheit und ersparen künftigen Generationen viel Schmerz und Leid. (Georg Pichler, 2.3.2020)